Uwe Schwabe

Was waren Ihre Träume und Hoffnungen in den achtziger Jahren? Wie sahen Sie die Gesellschaft der DDR zu dieser Zeit?

Die DDR war ein Land der jahrzehntelangen Abschottung. Hier ist nicht nur die Abschottung durch Grenzen und Mauern gegenüber anderen Ländern gemeint. Nein, auch die Abgrenzung nach innen, die fehlende Begegnung mit fremden Kulturen. Die Abgrenzung nach innen, zwischen „denen da oben“ und denen unten, innere Distanz zum „System“, ebenso die fehlende Debattenkultur und der Umgang mit Kritik und der nicht stattfindende Streit um politische Inhalte. Die Menschen sind aufgewachsen in einem Klima der Bevormundung und der Lügen.

Sie mussten ständig sinnlose Ergebenheitsadressen vom Sieg des Sozialismus abgeben – ob in der Grundschule, bei den Pionieren, in der FDJ oder selbst im Ferienlager und später im „Kollektiv“ des Betriebes. Man durfte in der Schule auf keinen Fall erzählen, dass man West-Fernsehen geschaut hat und welche Gespräche zu Hause geführt wurden. Die Eltern haben immer wieder gemahnt, in der Schule ja nicht politisch anzuecken und sich doch lieber für einen dreijährigen „Ehrendienst“ bei der Nationalen Volksarmee zu verpflichten, um den Studienplatz nicht zu gefährden. In der Studiengruppe in der Universität wurde über „Verfehlungen“ eines Mitstudenten offen abgestimmt und dessen Verhalten verurteilt.

Der täglich erfahrene Widerspruch zwischen der offiziellen Propaganda und dem eigenen Erleben – Václav Havel hat dies als „Leben in der Lüge“ schon 1976 in seinem Buch Versuch, in der Wahrheit zu leben so beeindruckend beschrieben. Er schrieb: „Es ist eine komplexe, tiefe und dauernde Vergewaltigung, beziehungsweise Selbstvergewaltigung der Gesellschaft.“

Welche Auswirkungen hatte das Ausbluten der DDR durch den Weggang einer gut gebildeten Mittelschicht? Mit welchem Gefühl wurden Freunde und Verwandte an Bahnhöfen in den Westen verabschiedet, gerade mit dem Wissen, dass du die nie oder erst als Rentner wiedersiehst?

Die Menschen in der DDR mussten ständig auf der Hut sein und konnten nur wenigen vertrauen. Die Denunziationsbereitschaft, ob in der Schule, der Universität, in Betrieben, oftmals selbst in der eigenen Familie oder der Nachbarschaft war sehr groß. Die Verführungen und die Verfolgungen des SED-Regimes griffen ineinander und bewirkten ein großes Misstrauen untereinander. Es ist der Nährboden für Feind- und Zerrbilder, Enge des Alltagslebens, Entsolidarisierung und Isolierung gesellschaftlicher Gruppen, Verhinderung von Vertrauen und Kooperation der Menschen. Abgrenzung geht durch die Köpfe und verschwindet nur schwer.

All diese Auswirkungen von 40 Jahren Leben in der DDR (nach vorhergehenden Jahrzehnten unter einer anderen deutschen Diktatur) sind trotz aller Aufarbeitung von einigen Fachleuten, von der Mehrzahl der Menschen in der DDR und desinteressierten Westdeutschen bis heute nicht hinlänglich analysiert und nur in Ansätzen diskutiert worden, bleiben aber relevant und werden auch an die nächste Generation weitergegeben.

Ich wollte nicht mehr andere darüber entscheiden lassen, was ich für Bücher lese, welche Filme ich sehen darf, welche Musik ich hören kann, und wo ich meinen Urlaub verbringe. Ich wollte nicht mehr, dass andere Menschen über mein Leben entscheiden. Meine Hoffnung war in den 1980er Jahren, dass die Menschen in der DDR sich endlich aus dieser Unmündigkeit befreien und sich selbstermächtigen und zu handelnden Personen werden. Nicht mehr nur im kleinen, privaten Kreis, sondern offen ihre Meinung sagen und für ihre politische Überzeugung auf die Straße gehen. Ich wollte Rechtsstaatlichkeit, freie Medien, Einhaltung von Menschenrechten, Demonstrationsfreiheit, die Möglichkeit, eigene Zeitungen herauszugeben oder Parteien zu gründen.

Welche Reformbewegungen oder Gruppierungen gab es in den Jahren vor der Wende?

Es gab die unterschiedlichsten Gruppierungen vor der Friedlichen Revolution; Umweltgruppen, Menschenrechtsgruppen, Friedensgruppen, Dritte Welt Gruppen und Gruppen, die sich um die Gleichberechtigung von Homosexuellen und Lesben bemüht haben. Es gab aber auch Hauskreise, die sich mit politischen Fragen beschäftigten.

Es gab künstlerische Gruppierungen, die sich für die Freiheit der Kunst engagierten. Es gab aber auch innerhalb der Partei SED-Reform-Kommunisten. Und es gab die große Gruppierung der Menschen, die einen Ausreiseantrag aus der DDR gestellt hatten. Es gab die unterschiedlichsten Jugendbewegungen von den Punks bis zu den Gruftis.

Wie haben Sie diese selbst erlebt und (wie) waren Sie selbst involviert?

Ich selber war seit 1984 in der Oppositionsbewegung in Leipzig aktiv und habe 1986 eine eigene subversive Gruppe gegründet unter dem Namen Initiativgruppe Leben. Mitte der 1980er Jahre war ich in der Jungen Gemeinde der Nikolaikirche aktiv. Ich beteiligte mich ab 1984 an der Vorbereitung und Durchführung der Friedensgebete und war an verschiedenen Initiativen der Leipziger Oppositionsszene beteiligt. Ich war Mitorganisator der Pleiße-Gedenk-Umzüge und des Leipziger Straßenmusikfestival am 10. Juni 1989. Im Januar 1989 saß ich wegen des Verteilens von Flugblättern für sieben Tage in Untersuchungshaft. 

Es war eine sehr kreative Szene von zumeist jungen Leuten, die es einfach satt hatten, weiter unter diesen Bedingungen in der DDR zu leben. Die Beweggründe sich zu engagieren, waren so unterschiedlich, wie die Anzahl der, die sich engagiert haben.

In welcher Form hatte die Reformbewegung Einfluss auf Ihre Arbeit nach 1989 und wie beeinflusst diese Ihre Arbeit oder Engagement noch heute?

Da ich Teil der Reformbewegung in der DDR war, hat sie natürlich auch heute noch einen sehr großen Einfluss auf mein politisches Engagement. Das hängt auch mit meinem Beruf im Zeitgeschichtlichen Forum und als Vorstandsvorsitzender des Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V. zusammen. Ich bin aber nie in eine Partei gegangen, da ich meine Unabhängigkeit nie verlieren wollte. Auch heute finde ich es unerträglich, wenn Menschenrechte verletzt werden, und ich kann gar nicht anders, als mich dagegen zu wehren und zu engagieren.

Welche Zusammenhänge sehen Sie zwischen den damaligen Aufbruchsbewegungen und den heutigen?

Aus meiner Sicht gibt es wenige bis keine Zusammenhänge. Damals ging es um die Abschaffung einer kommunistischen Diktatur. Heute geht es um die Mitgestaltung in einer Demokratie. Die Erinnerung an die Friedliche Revolution kann nicht nur dazu benutzt werden, heutige Probleme zu thematisieren und diese dafür nur als Anlass zu benutzen. Es muss genau umgedreht sein. Es ist ein Tag, an dem man sich diese große historische Leistung vergegenwärtigen muss, nämlich die friedliche Beseitigung einer kommunistischen Diktatur und die Erringung der Freiheit, den bewussten Aufbau eines demokratischen Rechtsstaates sowie am Ende die Wiedervereinigung Deutschlands und das weitere Voranschreiten des europäischen Einigungsprozesses.

Das sehen leider nicht alle so. Für einige ist die Friedliche Revolution eine abgebrochene, die weiter fortgeführt werden müsse, oder überhaupt keine Revolution. Hier wird leider immer wieder der Kampf um die Beseitigung einer Diktatur mit dem Ringen um ständige Veränderungen und Verbesserungen in einer Demokratie verwechselt oder gleichgesetzt. Nein! Der 9. Oktober ist ein Tag, an dem man zeigen kann, dass es sich auch in einer Diktatur lohnt, für Freiheit und Demokratie zu kämpfen. Es ist ein Tag, der zeigt, dass das Volk der Souverän ist. Es war ein einmaliger Vorgang in der deutschen Geschichte, bei dem sich die Bevölkerung mit dem Ruf „Wir sind das Volk“ erfolgreich zum Souverän ermächtigte. Dieses auch in einer Demokratie deutlich zu machen, denn auch da gefällt diese Tatsache nicht jedem, ist kraftvoll genug, um diesen Tag als Feiertag und als Vermächtnis für die Zukunft zu begehen.

Warum finden Sie es wichtig, auch heute noch über die DDR zu reden?

Man kann nur aus dem Wissen heraus, wie eine Diktatur funktioniert hat, eine Demokratie gestalten. Die jungen Menschen sollen verstehen lernen, wie eine Diktatur funktioniert hat, wie man Menschen gezwungen, verführt, manipuliert oder überzeugt hat, diese Diktatur mitzutragen. Warum haben sich so wenige Menschen wirklich engagiert und standen hinter den Gardinen? Sie sollen wissen, was es mit Menschen macht, die in einer Diktatur leben. Und es ist wichtig, die Deutungshoheit über diese Diktatur nicht anderen, egal ob von Rechts oder Links, zu überlassen.

You can only form a democracy if you understand how a dictatorship works. Young generations have to learn how dictatorships functioned, how they forced, seduced, manipulated or convinced people to participate. Why did so few people become active, hiding instead behind the curtains? They [young people] need to know how a dictatorship bends those who have to live in it. It is important not to surrender the interpretation of this dictatorship to the left or the right.

Uwe Schwabe wurde 1962 in Leipzig geboren. Nach der Schule absolvierte er eine Lehrausbildung als Instandhaltungsmechaniker und arbeitete von 1988 bis 1990 als Hilfskrankenpfleger in einem kirchlichen Altenheim. Ab 1984 war er Mitglied der Arbeitsgruppe Umweltschutz beim Jugendpfarramt in Leipzig und beteiligte sich an der Vorbereitung und Durchführung von Friedensgebeten in der Leipziger Nikolaikirche. 1987 gründete er mit anderen Aktivisten die „Initiativgruppe Leben“ und engagierte sich in der Arbeitsgruppe Menschenrechte. Seit 1987 wurde er durch das MfS im Operativen Vorgang „Leben“ und der Operativen Personenkontrolle „Willi“ observiert. Schwabe kam im Januar 1989  wegen der Verteilung von Flugblättern und dem Aufruf zur Demonstration für Meinungsfreiheit in Untersuchungshaft. Im Herbst 1989 gründete er mit anderen Mitstreiter*innen das Neue Forum Leipzig, wo er Regionalsprecher des Neuen Forums Leipzig-West war. Von 1991 bis 1993 war er Mitbegründer von Vereinen und Initiativen in Leipzig (Archiv Bürgerbewegung Leipzig e.V., Rumänienhilfe e.V., Stiftung Runder Tisch usw.) und Leiter des Archivs Bürgerbewegung Leipzig e.V., wo er seit 1993 im Vorstand des Vereins sitzt. Seit 1994 ist er Mitarbeiter bei der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland/Zeitgeschichtliches Forum Leipzig, wo er Veröffentlichungen zur Oppositionsgeschichte in Leipzig und zur Friedlichen Revolution. 1995 wurde Schwabe mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Seit 2003 ist er Stiftungsratsmitglied Stiftung Sächsische Gedenkstätten und Stellvertretender Beiratsvorsitzender der BStU. 2005 erhielt er die Ehrenurkunde für beispielhafte Zivilcourage von der Aktion Gemeinsinn. 2014 wurde er mit dem Deutschen Nationalpreis ausgezeichnet. 2019 erhielt Uwe Schwabe zusammen mit Gesine Oltmanns, Christian Dietrich und Katrin Hattenhauer den größten Ostdeutschen Medienpreis „Goldene Henne“. Uwe Schwabe ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in Leipzig.