Ursula Schröter

Was waren Ihre Träume und Hoffnungen in den achtziger Jahren? Wie sahen Sie die Gesellschaft der DDR zu dieser Zeit?

Zunächst fallen mir beim Nachdenken über die ersten 1980er Jahre die Beklemmungen und Ängste ein, die mit der Zuspitzung der weltweiten Systemauseinandersetzung verbunden waren: das neue Wehrdienstgesetz der DDR, der obligatorische Wehrunterricht in der 9. und 10. Klasse, Kriegsspielzeug – und schließlich 1983/84 die „Nachrüstung“ von nuklearen Mittelstreckenraketen aus den USA in Deutschland-West und aus der UdSSR in Deutschland-Ost. Ausgangspunkt war die These der Reagan-Regierung: „Man muss sie nicht totschießen, es reicht aus, sie totzurüsten.“ Seit Anfang der 1980er Jahre war in meinem Lebensumfeld allen klar, dass es so nicht weitergehen kann. Wie es aber weitergehen könnte, schien niemand zu wissen.  

Damals entstanden – oft unter dem Dach der Kirchen – vielfältige Protestgruppen (Frauen, Jugendliche, Künstler*innen, Lesben…), untereinander vernetzt oder auch verstritten, die in Opposition zum DDR-Staat gingen. Ich fühlte mich solchen Gruppen nicht zugehörig, weil ich zu dieser Zeit noch auf konzeptionelle und personelle Veränderungen innerhalb des sozialistischen Weltsystems hoffte.

Insofern klammerte ich mich wie viele andere an die Versprechungen, die seit Mitte der 1980er Jahre von Gorbatschows Reden und Schriften ausgingen, wohl wissend, dass Glasnost und Perestroika nicht viel mehr als Losungen waren. Aber eben Losungen, die in jener Zeit mitten ins real-sozialistische Leben trafen und wahrscheinlich schon deshalb Zuversicht verbreiten konnten.

Ich gehörte zu den vielen Tausenden, die am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz für eine andere DDR demonstriert haben – und auf dem Heimweg ahnten, dass soeben die DDR verabschiedet worden war.  

Als nach dem Mauerfall weitgehend zeitgleich zwei Bewegungen spürbar wurden – die eine in Richtung Umgestaltung der DDR, die andere in Richtung Beendigung der DDR – engagierte ich mich in der ersten, z.B. am Frauenpolitischen Runden Tisch in Berlin (siehe Frage 2 und siehe die unten stehenden Fakten).   

Alles an allem: Meine Träume und Hoffnungen in den 1980er Jahren hatten nichts mit dem gemein, was in den 1990er Jahren und danach tatsächlich passierte. Allerdings bin ich immer noch stolz darauf, dass der Sozialismus des 20. Jahrhunderts – zumindest in Deutschland – ohne Blutvergießen von der Bühne abgetreten ist.

Welche Reformbewegungen oder Gruppierungen gab es in den Jahren vor der Wende, von denen Sie gehört haben? Wie haben Sie diese selbst erlebt und (wie) waren Sie selbst involviert?

Hier muss zunächst etwas zum Begriff „Reformbewegung“ gesagt werden. Die Kräfte und Gruppierungen, die sich Ende 1989 formierten und die nach dem Mauerfall sehr schnell im Kontakt mit der Bundesregierung um Helmut Kohl standen, wollten die DDR nicht reformieren, sondern abschaffen. Unterschiedliche Auffassungen gab es lediglich dazu, ob das Ende der DDR nach §23 oder nach §146 des damaligen Grundgesetzes erfolgen soll.

Ich gehörte solchen Gruppierungen nicht an. Aber ich interessierte mich seit Mitte November 1989 verstärkt für die einzige DDR-Frauenorganisation DFD (Demokratischer Frauenbund Deutschlands), weil sich dort neue und selbstbewusste Frauen zu Wort gemeldet hatten, die eine „Erneuerung des DFD“ anstrebten und ihn „zurück zu den parteineutralen Wurzeln“ holen wollten. Ich hielt es damals für notwendig und auch für machbar, den SED-nahen DFD zu einer Frauenorganisation umzugestalten (Perestroika!), die mit dem gerade entstehenden „Unabhängigen Frauenverband“, mit Frauen-Friedens-Gruppen, mit westdeutschen Frauengruppen usw. auf gleicher Augenhöhe arbeiten kann. Zu diesem Zeitpunkt lagen dem DFD-Bundesvorstand etwa 3200 Protest- und Sorgebriefe von DDR-Frauen vor, deutliche Aufforderungen zum Reformieren – auch des DFD.

Nachdem seit Frühjahr 1990 die Weichen Richtung Kapitalismus gestellt waren, bedeutete „Erneuerung des DFD“ eine Umstrukturierung der Organisation (die 1988 noch 1,5 Millionen Mitglieder hatte) zu einem BRD-tauglichen Frauenverein. Seit Ende Oktober 1990 gibt es den dfb e.V. (den eingetragenen Verein Demokratischer Frauenbund), der sich als Nachfolgeorganisation des DFD versteht, der mit neuen Strukturen, neuen Aufgaben, neuen Verantwortlichen angetreten ist, der 1993 ein juristisch selbständiges Sozialwerk gegründet hat, der Mitglied des Deutschen Frauenrates ist und zu dem juristisch selbstständige Landesverbände in allen ostdeutschen Ländern (außer Berlin) gehören. Ich bin Mitglied des Vorstandes und in diesem Kreis vor allem für theoretische und historische Themen und für die entsprechenden Kontakte zuständig (Feminismus, sozialistisches Patriarchat, DFD-Geschichte usw.). Wir waren als Verein aktiv am NGO-Forum der IV. Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 beteiligt, schreiben mit an der CEDAW-Alternativberichterstattung für die UNO und haben auch gelegentlich noch Kontakte zu kubanischen und vietnamesischen Frauenorganisationen.

Beim Stichwort „Reformbewegung“ muss darauf hingewiesen werden, dass es in den 40 DDR-Jahren immer wieder und nicht nur gegen Ende (mehr oder weniger erfolglose) Reform-Bewegungen gab. Das begann in den 1940er Jahren, als „ein besonderer deutscher Weg“ zum Sozialismus diskutiert wurde, also ein Weg, der sich von dem der Sowjetunion unterschied. Auch in den ersten 1960er Jahren wurden Reformen auf ökonomischem Gebiet, auf frauenpolitischem Gebiet, auf jugendpolitischem Gebiet und auf kulturpolitischem Gebiet angedacht und angestrebt (letztlich alle auf Überwindung des Stalinismus gerichtet), die dann auf dem berüchtigten „Kahlschlag-Plenum“ im Dezember 1965 ihr Ende fanden. In den 1980er Jahren entstanden an der Humboldt-Universität Berlin Reform-Überlegungen für einen demokratischen Sozialismus, die 1990 keine Realisierungschance hatten.   

In welcher Form hatte die Reformbewegung Einfluss auf Ihre Arbeit nach 1989, und wie beeinflusst diese Ihre Arbeit oder Engagement noch heute?

Dass ich seit 30 Jahren zu frauenpolitischen, familienpolitischen, kinderpolitischen, feministischen Themen arbeite und publiziere, hat nicht nur mit der „Erneuerung des DFD“ zu tun, also mit meinem neuen Interesse an Fragen, die in der DDR tatsächlich für mich nicht wichtig waren.

Es hat auch mit dem plötzlich eintretenden kapitalistischen Alltag zu tun. Die Dienststelle, in der ich in den letzten DDR-Jahrzehnten gearbeitet hatte, wurde 1990 aufgelöst. Die Aufgaben, die ich zu lösen hatte (rechentechnische Auswertung von soziologischen Befragungen), übernahm weitgehend die nun verfügbare Software (SPSS). In dieser Situation verband ich mich mit etwa 20 ehemaligen Kolleg*innen, um den gesellschaftlichen Umbruch in Ostdeutschland soziologisch zu begleiten. Die bürokratischen Hürden waren enorm, aber wir konnten schließlich zwischen 1990 und 1993 vier für Ostdeutschland repräsentative Befragungen durchführen, deren Auswertung mir die Notwendigkeit von „Geschlechterforschung“ vor Augen führte. Die Zahlen belegten, dass sich die Einstellungen zu den gesellschaftlichen Umbrüchen in Ostdeutschland deutlich nach Geschlecht unterschieden.

Welche Zusammenhänge sehen Sie zwischen den damaligen Aufbruchsbewegungen und den heutigen?

Zunächst: Ich bin heute, genau wie in den 1980er Jahren davon überzeugt, dass es so nicht weitergehen kann, nun weltweit. Insofern bin ich Greta Thunberg sehr dankbar für ihr Engagement. Aufbruchsbewegungen machen bekanntlich immer auf zu lösende Widersprüche in der Gesellschaft aufmerksam: die Frauenbewegung auf den Geschlechterwiderspruch, die Jugendbewegung auf den Generationenwiderspruch, die ökologische Bewegung auf den Widerspruch zwischen Natur und Gesellschaft usw.

Heute reicht es wohl nicht, einzelne Widersprüche auf die Tagesordnung zu setzen und Lösungen zu suchen, selbst wenn es den politischen Willen dazu gäbe. Heute ist die Gesellschaft als Ganzes in Frage zu stellen, ihr Patriarchalismus, ihr Adultismus, ihr Rassismus, ihre Rücksichtslosigkeit gegenüber der Natur, vor allem aber ihre nun wieder ungehemmte Profitorientierung mit dem damit verbundenen Militarismus.

Ob die Menschen die Kraft haben werden, hier gegenzusteuern, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass die Aufbruchsbewegung der DDR-Frauen von einer bis dahin unvorstellbaren Kraft geprägt war. Die Schauspielerin Walfriede Schmitt erinnert sich: „Wir haben in der Volksbühne zusammen mit den Frauengruppen, die sich überall gegründet hatten, das Frauentreffen organisiert. Das war herrlich. Das war eine Kraft. An die glaube ich… Es gibt Momente im Leben, wo man merkt, welche Kraft in den Menschen ist und in wie vielen Menschen… Und ich hoffe, das bleibt in allen diesen Köpfen und Herzen und nicht nur die Niederlage.“[1]

Warum finden Sie es wichtig, auch heute noch über die DDR zu reden?

Zum einen sind bis heute in Ostdeutschland Spuren der DDR-Vergangenheit nachweisbar, die erklärt werden müssen. So ist die Geburtenrate seit 2008 (nach dem dramatischen Geburtenrückgang) wieder höher als im Westen, obwohl auch das Armutsrisiko höher ist. So sind die Lebensentwürfe der jungen ostdeutschen Menschen, die kaum noch eigene DDR-Erinnerungen haben dürften, mehr als im Westen auf Ganzheitlichkeit (Beruf und Familie) ausgerichtet. So ist der Einfluss der Kirchen im Osten stabil gering. So sind Ostdeutsche immer noch weniger als Westdeutsche bereit und in der Lage, „sich gut zu verkaufen“, d.h. sich als Ware zu betrachten.   

Zum anderen zwingen die oben genannten weltweiten existenziellen Probleme der Menschheit dazu, über neue Gesellschaftskonzepte, auch über neue Alternativen zum Kapitalismus nachzudenken. Das wiederum bedeutet, die Vorzüge, aber auch die Fehler der alten Konzepte (Marxismus-Leninismus) aufzudecken und öffentlich zu machen. 

Firstly, traces of GDR history are still detectable in East Germany, which must be explained. Since 2008, the birth rate is again higher than in the West (after a dramatic decline in birth), even though the risk of poverty is higher [in the East]. Thus, the life plans of young East Germans—who are unlikely to have their own memories of the GDR—are oriented to a more holistic lifestyle (profession and family) than their western counterparts. The influence of the churches is stably low in the East. East Germans are still less willing than West Germans “to sell themselves,” i.e., to see themselves as a commodity.

Secondly, the above-mentioned global existential problems force humanity to think about new social concepts and alternatives to capitalism. This, in turn, also means uncovering and making public the mistakes of old concepts (Marxism-Leninism).

Ursula Schröter wurde 1941 in Leipzig geboren. Ihre Eltern – der Vater Elektromonteur, die Mutter Hausfrau – hatten 1933 Hitler gewählt, waren von der Überlegenheit der Deutschen überzeugt und hielten sich für „unpolitisch“. In den 1960er Jahren studierte sie Mathematik arbeitete als Programmiererin. In den 1970er und 1980er Jahren hatte sie eine Aspirantur in der Soziologie und Tätigkeit in der soziologischen Methodik und Rechentechnik. In dieser Zeit heiratete sie auch und bekam zwei Söhne. Mit der Familie zog sie von Leipzig nach Berlin um. Von 1990 bis zu ihrer Rente pendelte Schröder zwischen befristeten Projektstellen und Arbeitslosigkeit, blieb aber immer mit den Themen Frauenforschung, Feminismus und Patriarchatskritik beschäftigt. Diese Themen – bezogen auf die DDR-Vergangenheit und auch auf die ostdeutsche Gegenwart – füllen ihre Tage (manchmal auch die Nächte) auch heute noch aus. 


[1] Renate Ullrich, Mein Kapital bin ich selber. Gespräche mit Theaterfrauen in Berlin-O 1990/1991. Zentrum für Theaterdokumentation und -information Berlin 1991, S. 66