Telefoninterview – Kein Ort. Nirgends?
Was waren Ihre Träume und Hoffnungen in den achtziger Jahren? Wie sahen Sie die Gesellschaft der DDR zu dieser Zeit?
Anfang 1988 hatte ich einen Traum, einen Nachttraum… ich laufe eine Straße entlang, ziemlich großes Kopfsteinpflaster. Neben mir ragen Häuser empor, fünfgeschossig, mürbe von hundert Jahren Geschichte, vernachlässigt in all den Jahren der Planwirtschaft. Es war meine Stadt, wir nannten sie Berlin, ohne Angabe der Himmelsrichtung. Es dämmerte schon. Ich war müde vom Tag. Ich spüre ein Zittern in den Beinen, bleibe stehen, unter mir scheint die Straße nachzugeben, ich versuche schneller zu laufen. Unter mir wird es heiß, Lava dringt durch die Pflasterfugen. Jeder Stein, auf den ich trete, bricht hinter mir weg. Ich stürze nach vorn. Da steht eine Mauer mit einer Öffnung, von einer taumelnden Laterne erleuchtet. Mit einem letzten Sprung springe ich in diese Mauer. Ein betäubender Knall, und dann atemberaubende Stille. Noch taumelnd erkenne ich eine fast mediterrane Stadtlandschaft, mit vielen kleinen Cafés. In gelbes Abendlicht getaucht sitzen Leute an den Tischen, reden, lachen, lesen. Niemand scheint mich wahrzunehmen. Eine Ahnung macht sich in mir breit, ein Gedanke, ich bin im Westen. Warum ich das erzähle? Wenn heute von den Träumen der Ostdeutschen damals hinter der Mauer gesprochen und geschrieben wird, geht das immer mit Freiheit, freie Meinungsäußerung einher, vielleicht noch ein bisschen Karibik. Es gab 17 Millionen Träume, Sehnsüchte, vor allem wohl das Gefühl, etwas zu versäumen…
Welche Reformbewegungen oder Gruppierungen gab es in den Jahren vor der Wende, von denen Sie gehört haben? Wie haben Sie diese selbst erlebt, und (wie) waren Sie selbst involviert?
1985 waren mein Vorrat an Demut, meine Kompromissmöglichkeiten aufgebraucht. Ich habe mich beim Filmminister angemeldet und ihm das mitgeteilt. Seine Frage war, ob das ein Wedeln mit einem Antrag auf Ausreise in die BRD wäre. Ich habe ihm von meinem Leben, von meinen beruflichen Erfahrungen mit Zensur etc. erzählt. Das Gespräch dauerte ca. vier Stunden. Er hatte mich wohl verstanden, fragte mich, wie ich es handhaben wolle. Ich sagte ihm, dass ich völlig freie Hand haben wollte, und dass mir eine Veröffentlichung meiner Arbeit absolut egal wäre. Seine letzte Frage war, ob ich schon ein Thema für meinen nächsten Film hätte. Natürlich wusste er sicher von der Staatssicherheit, dass ich schon fast zwei Jahre mit Skinheads, Gruftis und Punks durchs Land zog. Meine Antwort: „Ich arbeite ab sofort langfristig mit Kamera und Team an diesem Thema, ohne Beschränkungen, ohne Veröffentlichungstermine, ohne irgend jemandem Rechenschaft geben zu müssen.“ Er stand auf, sah mich lange an, wanderte eine Weile zwischen Fenster und Schreibtisch, setzte sich wieder und sagte: „Gut.“ Machte eine Pause, dann: „Ich werde dich nicht daran hindern.“ Pause, und: „Da bist du aber damit allein, es kann dir keiner helfen, wenn etwas passiert.“ Ich: „Gut.“ Wir gaben uns die Hand, etwas länger gehalten als gewöhnlich. Dann machte er das Licht an, denn inzwischen war es fast dunkel geworden, ohne dass wir das bemerkt hatten. Im Juli 1989 gab es dann die Vorführung einer Rohfassung. Da wurde mit dem Kopf gewiegt und nicht nein oder ja gesagt. Und dann gab es im Oktober ’89 noch eine Vorführung, an dem Tag, als Honecker gestürzt wurde. Die Vorführung wurde für 14 Uhr anberaumt, wir saßen in unserem Studio am Gendarmenmarkt im Filmvorführraum. Der Film lief noch im Rohschnitt, eine noch ganz unfertige Fassung. Der Film lief schon eine halbe Stunde, da ging plötzlich das Licht an. Die Sekretärin des Filmministers kam rein und sagte, er müsse ganz dringend in die Hauptverwaltung (zuständig für Film) kommen. Er drehte sich noch mal um und bat uns, sitzen zu bleiben. Nach einer Stunde kam er zurück, rieb sich die Hände und sagte: „So, jetzt können wir uns den Film mit anderen Augen ansehen. Erich Honecker ist gestürzt und Egon Krenz ist neuer Generalsekretär.“ Wir haben uns den Film noch einmal angesehen. Er meinte, er hätte nichts dagegen und es würden auch keine Änderungen verlangt. Die Verantwortung würde er auf seine Kappe nehmen. Am nächsten Tag kamen drei vom Zentralkomitee der SED, aus der Abteilung Sicherheit, vom politischen Arm der Staatssicherheit. Nach der Hälfte des Films drehte sich deren Chef zu mir um und sagte: „Den Film haben wir doch in Auftrag gegeben, oder!“ Ich sagte: „Ihr seid nicht die Auftraggeber, sondern die eigentlichen Adressaten, es sind auch eure Kinder.“
Zu Ihrer Ausgangsfrage: Natürlich hatte ich Kenntnis und persönlichen Kontakt zu den verschiedenen Reformbewegungen in dieser Zeit. Ich war aber vor der Wende in keiner Partei, ich war nicht Mitglied in irgendeiner Gruppierung und bin es auch heute nicht. Ich sah und sehe den Sinn meiner Arbeit in meinen, vielleicht unzulänglichen aber aufrichtigen Filmen, die immer vom Zuhören berichten, nicht nur vom so tun, als höre man zu, sondern vom richtigen Zuhören, um verstehen zu wollen. Ich war und bin, ich erlaube mir das zu sagen, meine eigene Reformbewegung. Ich bin ja mit den Skinheads am Tage und auch nachts durch die Gegend gefahren… habe Stunden mit ihnen gesprochen, gefragt, ich habe ihnen immer gesagt, ich bin dabei, aber nicht, wenn Gewalt ausgeübt wird. Ich habe ihnen gesagt, wenn ich höre, dass so etwas vorbereitet wird, dass sie mich dann sofort verlieren. Die wollten mich aber nicht verlieren, die wollten ja auch Öffentlichkeit haben. Ich war ja nicht bei ihnen, um die Welt zu verändern. Ich wollte die Öffentlichkeit von der Existenz eines Problems informieren. Es waren insgesamt fünf Jahre, zwei davon mit Dreharbeiten. Ich hatte mich auch ein ganzes Jahr lang, von 1988–1989, bemüht, in den schlimmsten Jugendknast nach Ichtershausen zu kommen, wo auch die Politischen saßen, mit Gewalttätern, wegen Mordes Verurteilten… irgendwann rief mich der Gefängnisdirektor an, mit dem ich ein paarmal gesprochen hatte und der meinen Besuch aber immer abgelehnt hatte, und fragte, ob ich denn jetzt mal kommen wolle. Ich bin dann dahingefahren, und er hat mir alles gezeigt. Es war bis dahin für mich unvorstellbar, dass es in diesem Land ein solches Gefängnis für Jugendliche geben könnte, Stacheldraht, Laufhunde. Der Anruf war synonym für die beginnende Auflösung der DDR, für die verzweifelte Vor- oder wenn man so will Nachsorge… „Ich habe das so doch auch nicht gewollt.“ Dann ging es ja ganz schnell, nach dieser Filmvorführung mit den Stasileuten… so Ende Oktober 1989 hatte der Film dann im Berliner Filmtheater Colosseum Premiere. Ich hatte ein Plakat machen lassen, acht Meter mal fünf Meter lang, knallrot. Darauf stand nur Unsere Kinder, weiter nichts. Ich wurde vier Tage lang im Dienstwagen, manchmal mit Blaulicht, zu den Filmveranstaltungen gefahren. Ich erinnere mich, in Jena war die Straße überfüllt und gesperrt. Da hat uns die Polizei durchgelassen. Ich dachte, da ist eine Demo, es stellte sich aber heraus, dass es das Publikum für den Film war. Es gab vier Vorstellungen, alle überfüllt und danach jeweils eineinhalb Stunden Diskussion. Überall im Land. Dann kam der Mauerfall am 9. November und es war still um den Film. Man kann es dem Publikum nicht verübeln, da gab es Spannenderes. Der Film ist dann immer mal wieder aufgelebt. Jetzt läuft der Film wieder ganz viel.
In welcher Form hatte die Reformbewegung Einfluss auf Ihre Arbeit nach 1989, und wie beeinflusst diese Ihre Arbeit oder Engagement noch heute?
Ich bin ja, wie gesagt, in keiner dieser Bewegungen gewesen. Jeden Tag kamen Leute mit Listen, wenn man so in der Öffentlichkeit stand. Ich habe keine Listen unterschrieben, weil ich nicht wusste, was man damit oder daraus macht. Ich kann nur für mein eigenes Tun verantwortlich sein. Ich habe keinen Nachholbedarf an Lautheit. Ich war schon immer laut und habe meine Stimme erhoben. Das habe ich jetzt auch wieder gemacht und mache es auch weiterhin. Ich habe ja zu der Zeit einen zweiten Teil von diesem Film gedreht. Der wurde für den Ostdeutschen Rundfunk 1992 gemacht. Der heißt Mit Angst – Ohne Gewalt. Meine These war, dass wir alle sehr viel Angst entwickeln müssten… das war 1992. Ich bin den Skinheadspuren noch einmal gefolgt… auch ein eineinhalb Stunden Film. Den hat dann der Ostdeutsche Rundfunk im Fernsehen um 0.35 Uhr gezeigt. Ich habe zu der Chefredakteurin gesagt, dass da ja nicht mal mehr meine Mutter fernsehen schaut.
Also, ich bin da immer dabeigeblieben, ich bin meine eigene Organisation. Es gibt immer so ein komisches Zusammenzucken, wenn man sagt, man arbeitet künstlerisch mit dokumentaren Mitteln. Ich sag frei heraus, dass ich Künstler bin. Ich mache, was ich will. Wenn mir jemand mit etwas Gutem entgegenkommt, dann mache ich mit. Das ist ja das Gute am Job „Regisseur“: Er muss keine Karriereleiter aussitzen. Ich mache heute meine gesamte Videotechnik alleine, auch in bester technischer Qualität. Ich drehe selber, ich schneide selber, recherchiere selber, ich fahre mein Auto selber… bin mein eigener Kameraassistent, Tonmeister, Texter, ich mache meine Musik alleine… Ich vermisse die Teamarbeit ein bisschen, aber ich ergänze das dadurch, dass ich einen sehr guten Freundeskreis habe, gute Leute, einfache Leute, medienerfahrene Leute… Denen und Fremden zeige ich die Filme immer wieder im Entstehungsprozess, schleife sie so, dass sie mir immer besser gelingen, dadurch kann ich mir vertrauen. Zu mir sagen Leute, dass ich ein Schwarzseher sei. Ich sage, ich bin ein Optimist. Ich lese drei Tageszeitungen täglich, schreibe Gedichte, mache Filme und Musik und führe Gespräche mit den verschiedensten Menschen. Ich habe Filme in Deutschland, Ungarn, Aserbaidschan, Palästina, Israel, Irland etc. gedreht. Meine Filmarbeiten dauern oft Jahre. Da geschieht sehr viel mit mir, mit meinen Arbeiten, da ist ständig Bewegung, Reform.
Welche Zusammenhänge sehen Sie zwischen den damaligen Aufbruchsbewegungen und den heutigen?
Heute tönt ja der Streit laut in der Presse, wer die Revolution 1989 für sich reklamieren kann. Die Menschenrechtler, die damals aufgestanden sind und Widerstand geleistet haben, sagen, wir waren das. Die Politiker sagen, naja, aber die sind ja links und da kann man sich ja nicht drauf berufen, denn die wollen ja wieder einen Unrechtsstaat aufbauen. Und dann sind da noch diejenigen, die ausreisen wollten, die die DDR eigentlich faktisch beendet haben… Denn ohne die Ausreiser hätte es das Ende der DDR nicht gegeben. Nur mit den Menschenrechtlern alleine hätte das nicht funktioniert. Aber in dieser Kombination zwischen einer rhetorisch begabten Minderheit, die politisch viel Aufmerksamkeit in der ganzen Welt gefunden hat, vor allem aber in den Westmedien, und den Leuten, die den Druck gemacht haben, dass das Ganze zusammenfällt, auch wirtschaftlich… dadurch ist es passiert. Etwas unterbelichtet wird wohl heute auch die damalige Weltlage, die solche Dinge, ausgehend, von dem was Gorbatschow repräsentierte, erst möglich gemacht hat. Und jetzt kommt die AfD dazu, klug ist die ja nicht gerade, aber sehr schlau, und sagt „Vollende die Wende“. Hier in Brandenburg, Thüringen etc. hängen überall Plakate, da steht drauf „Vollende die Wende“. Diese ganze Entwicklung hat dazu geführt, dass große Teile der Bevölkerung aus der ehemaligen DDR etwas erlebt haben, was die Bundesrepublik schon Ende der 60/70er Jahre in Teilen erlebt hat; nämlich den totalen Verlust des Politischen. Sie haben keine Lust, sie haben regelrecht Angst oder Scheu, sich damit zu beschäftigen. Wenn ich ehrlich bin, ich lese drei Zeitungen am Tag und höre bestimmt fünfmal die Nachrichten, ich habe Albträume. Ganz viele Menschen, mit denen ich rede, sagen mir manchmal, sie bekommen gar keine Luft mehr… Ja, ich bin optimistisch. Ich sage, wir durchlaufen wie immer Phasen und wir werden auch das in den Griff bekommen, auch die Natur werden wir retten können. Wir müssen nicht immer bis zum Hals im Mist stehen… wir müssen einander zuhören. Den Verlust des Politischen nutzt die AfD auf bravouröse Weise. Vor Kurzem gab es eine Sendung, da hatte sich der Deutschlandfunk mit einem mobilen Studio vor das Rathaus in Dresden gestellt. Sie haben die Passanten befragt und Politiker eingeladen. Die Kultursprecherin der AfD war auch da. Sie hat da ziemlich dummes Zeug geredet. Es kam dann heraus, nachdem sie lange darüber palavert hatte, was die DDR kulturpolitisch gewesen sein soll, dass sie gar nicht aus der ehemaligen DDR kommt. Wenn man sich die ganze Führungsmannschaft der AfD anschaut, die kommen alle aus dem Westen. So, wie fast die ganze DDR von der Treuhand mit sogenannten Investoren überschwemmt wurde, so war das auch mit der AfD. Und diese westdeutsche Führungsclique hat einen sehr nüchternen, differenzierten und schlauen Blick auf die Leute hier. Die wissen genau, dass sie vor allem nicht gewählt werden wegen ihrer Politik, sondern, weil die Leute mit dem Wählen der AfD den anderen Parteien sagen wollen, dass die Parteien sie genauso verkauft haben, wie die DDR verkauft wurde. Es ist eine Trotzreaktion. Die AfD ist aber nicht die Ursache, sondern die Wirkung. In meinem Film sagt ein Skinhead, noch tief in der DDR, „wenn einem in der Schule die BRD so schlecht gemacht wird, und einem hier das System auch nicht gefällt, dann kann man sich ja nur noch in so eine (rechte) Richtung entwickeln“.
Ich drehe ja gerade in Brandenburg. Hier wird Fontanes zweihundertster Geburtstag gefeiert. Da gibt es eine Fontane Ausstellung in Neuruppin, mit dem Namen Unausstehlich und reizend zugleich – die Brandenburger. Also, die Gegend hier war schon immer von einer gewissen Härte und scheinbar kalte Schnauze. Man sagt ja oft „Harte Schale, weicher Kern“. Und diesen weichen Kern hat die Entwicklung der letzten siebzig Jahre ganz schön hart geklopft. Den Leuten geht es ja eigentlich gut hier. Eigentlich, aber… Viele Leute von draußen sagen, sie verstehen das nicht, wenn man sich die modernisierten und restaurierten Städte und Kleinstädte anschaut. Aber das ist genau das Problem. Es sieht alles gut aus, aber die Leute haben erstens keinen neuen Sinn geliefert bekommen, und jetzt nach dreißig Jahren ist ihnen auch klar geworden, dass sie keinen neuen Sinn geliefert bekommen werden. Und schlimmer noch, sie haben wenig Ideen, wie man noch an irgendetwas glauben soll, es gibt kein neues Narrativ. Sie sind abgehängt, ihre Orte sind oft leere Gefäße, deindustrialisiert, abgeschnitten, keine Verkehrsverbindungen, kaum Netz, keine kommunikativen Zentren. Kein Vertrauen, Misstrauen. Viele haben keine Angst vor dem Heute, sie haben Angst vor der Zukunft. Für mich heißt das, sie sind sensibel, klug. Was sie fürchten, tritt gerade ein. Eine Multiangst. Ein Soziologe hat mal gesagt… eigentlich wollen alle Leute nur in Ruhe ihren Kaffee trinken. Und vor allem, morgen auch noch… Das sehe ich auch so. Wann immer ich irgendwo hinkomme und mit Jungnazis, Altnazis oder Neonazis rede… nachdem die mich erstmal eine Stunde lang beballert haben, dann kommen die einfachen Fragen, mit denen alles sich entscheidet. Dann kann ich gute Gespräche führen. Ja, es gibt Aufbruchsbewegungen, aber es ist stiller geworden. Sehr still. Stattdessen ist es manchmal alarmistisch schrill, aber auch nur manchmal, z.B. nach politischen Gewalttaten. Seit dreißig Jahren gibt es das, einen Tag später Betroffenheit, Empörung, ultimative Gesetzesinitiativen. Vor ein paar Wochen las ich in einer Zeitung, dass nach dem tödlichen Attentat auf einen Kommunalpolitiker, die Akten des sogenannten NSU (Nationalsozialischer Untergrund) Prozesses, (in dem viele staatliche Fehler und nicht aufgeklärte Widersprüche staatlichen Handelns bekannt wurden) nach dem Ende des Prozesses für 130 Jahre gesperrt wurden. Nun, nach dem Attentat, hat man diese Sperrung auf dreißig Jahre gesenkt. Wie viele Fragezeichen soll ich da setzen, um meine Sprachlosigkeit anzuzeigen. Ich setze dafür ein Ausrufezeichen.
Warum finden Sie es wichtig, auch heute noch über die DDR zu reden?
Ich bin gar nicht der Meinung, dass es so wichtig ist, über die DDR zu reden, wie es gerade scheint; dass sich die Gruppen streiten, wer nun die Revolution gemacht hat oder wer Menschenrechtler war oder nicht. Ich gehöre zum Beispiel nicht zu den „Menschenrechtlern“, weil ich mich von jeder aktiven Politik damals in der Wendezeit ferngehalten habe. Konrad Weiß (Demokratie Jetzt) ist ja zu mir gekommen und hat gesagt, du musst jetzt bei uns mitmachen. Ich habe in meinem Studio mit Christiane Hein, der Frau von Christoph Hein, dem Schriftsteller, etwas ganz Normales gemacht… Wir hatten beide so die Schnauze voll von dem Gelaber, dass wir an einem Tag im September [1989] in die Grafik runtergegangen sind und uns eine große Papierrolle geholt haben, wo wir draufgeschrieben haben: Ein Runder Tisch für ein neues Studio. Wir haben das dann in der Kantine quer über das Erich Honecker Bild gehangen. Und am nächsten Tag haben wir ein einseitiges Manifest geschrieben für die tausend Mitarbeiter und um ein Mandat gebeten, damit wir das Studio [DEFA-Studio für Dokumentarfilme in Berlin/Babelsberg] verändern können. Uns schien das wichtig, vor Ort schnell zu handeln. Und wir haben das Mandat bekommen. Wir haben aber nach drei Monaten wieder aufgehört, weil wir gemerkt haben, dass wir gar keine Zeit hatten, irgendwas zu verändern, denn die von der Bundesregierung eingesetzte Treuhand wollte uns an einen Schweizer Pressekonzern verkaufen. Am Ende ist es einfach abgewickelt worden.
Was aber für mich das Verblüffende war, war, dass der Studiodirektor und der Parteisekretär mich behandelt haben, als wäre ich der Messias. „Ja, kommen sie zu mir, wir können über alles reden.“ Dann habe ich gesagt, was ich alles verändern wollte. Sie meinten: „Sehr gut, sehr richtig. Komm doch morgen wieder.“ Wir haben sie einfach abgelöst. Ohne Widerstand. Das war aberwitzig. Ich glaube, dass das heute auch so wäre… dass man auf lokaler Ebene ganz viel tun müsste… und könnte. Die Globalisierung ist nicht aufzuhalten, aber die begleitende Regionalisierung ist eine der großen Chancen für eine Balance. Die Leute müssen Geld in die Hand bekommen, dass z.B. mittelständische Betriebe unterstützt werden… Orte der Kommunikation, der Debatten, es gibt so viele Gelegenheiten, wo man ansetzen könnte… Aber es wird ja nur geredet und um Stimmen gefeilscht. Das hat die westliche Demokratie im Augenblick so an sich. Ich denke, dass diese Demokratie eine des letzten Jahrhunderts ist, sie hat nicht versagt, sie muss reformiert werden. Wir müssen keine Angst haben, dass wir wieder eine faschistische Welt erleben. Die Demokratie und deren Vertreter sind einfach überaltert, sie passen so nicht mehr zu den technischen und geologischen Möglichkeiten der Realitäten. Wir müssen sie verändern… und zwar mit harten Schnitten, die aber durch verfassunggebende Versammlungen begründet sein müssten. Die DDR ist ja zu Unrecht von der Bundesrepublik einfach übernommen worden, in den grundlegenden Verträgen dieser Bundesrepublik stand am Ende der 40er Jahre das, wenn jemand dazukommt, eine verfassungsgebende Versammlung abgehalten werden muss. Und die ist ja ganz bewusst ausgelassen worden. In den 90er Jahren hätte man, im Zeitraum von vielleicht zehn Jahren, eine neue Verfassung erarbeiten können. Wir können auch jetzt eine verfassungsgebende Versammlung gründen; eine große und viele kleine Runde Tische. Am Anfang darf eine Utopie stehen. Am Ende Politik. Und dann wieder von vorne. Nachdem ich Christa Wolf und die beiden Skinheads in meinem Film zusammengebracht hatte, habe ich keine Fragen gestellt. Sie haben zweieinhalb Stunden miteinander debattiert. Als ich Christa dann nach Hause gefahren habe, sprachen wir über Utopien. Wir waren beide erstaunt, als wir uns diesen Begriff noch einmal bewusst gemacht haben. Ein Buch von ihr heißt so: Kein Ort. Nirgends. Lasst uns dahin gehen!
I actually do not find it important to talk about the GDR which is contrary to how many people think nowadays, arguments about who was part of the revolution, who was a human rights activist and who was not. I, for example, was not a human rights activist because I stayed away from becoming involved in active politics around the time of the reunification. You know, Konrad Weiß (Demokratie Jetzt) came up to me then and said, “You have to join us.” In my studio, Christina Hein (the wife of writer Christoph Hein) and I did something totally normal… Both of us were so sick and tired of all that foolish talking that, one day in September [1989], we went down to Graphics and got a large paper roll on which we wrote: A roundtable for a new studio. We hung that right across the Erich Honecker picture in the cafeteria. And the next day, we wrote a one-page manifesto for the thousand staff members and asked for a mandate to change the studio [DEFA-Studio for Documentary Films in Berlin]. It seemed important to us that we would act right there where we worked. And we received the mandate. After three months, however, we quit again, as we realized that we had run out of time to change anything because the Treuhand, a trust agency instated by the government of the Federal Republic, wanted to sell us to a Swiss Press cooperation anyways. In the end, everything was simply “handled.”
But what was astounding to me was the fact that the studio manager and the Party Secretary treated me as if I were the Messiah: “Yes, come to me. We can talk about everything.” And then I said the things I wanted to change. They said: “Very good, you are right. Come back tomorrow.” We just replaced them. Without any opposition. That was ludicrous. I believe that it would be the same today… that we would have to (and actually could) do so much at the local level… Globalization cannot be stopped, but the accompanying regionalization (begleitende Regionalisierung) is a way to achieve some kind of balance. People have to receive some money so that medium-sized companies can be supported… places of communication, of debates—there are so many opportunities where we could start… but people only talk and haggle over votes. That is how western democracies function now. I think that this democracy hails from the last century: It has not failed, but it must be reformed. We don’t have to be afraid that we will experience a fascist world again. This democracy is simply outdated, it doesn’t fit anymore with all those technical and geological possibilities, our realities, and we must change it… with rigorous cuts in fact. But these cuts would have to be justified by constituent assemblies. As you know, the FRG took over the GDR unlawfully. At the end of the 1940s, basic treaties for the Federal Republic stated that when a country joins, a constituent assembly must be held, but this was neglected quite deliberately. During the 1990s, after ten years had passed, they could have worked out a new constitution. We can establish a constituent assembly even now, a large one, and many small roundtables. In the beginning, it is permissible to have utopian aspirations. In the end, there is politics. And then we start again. After I had brought together Christa Wolf and the two skinheads in my film, I did not ask any questions. They talked to each other for two and a half hours. When I took Christa home afterward, we talked about utopias. We were both amazed when we thought about this term again. One book of hers is called: Kein Ort. Nirgends (this literally translates to: No Place Nowhere.) Let’s go there!
Roland Steiner wird am 5. Oktober 1949 in Altenburg geboren. Er absolviert eine Facharbeiter-Ausbildung als Maschinenschlosser mit Abitur und arbeitet von 1968 bis 1969 als Kameramann-Assistent im DEFA- Studio für Wochenschau und Dokumentarfilme. Danach leistet er seinen Grundwehrdienst bei der Nationalen Volksarmee ab und beginnt 1970 ein Studium an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam Babelsberg im Fachbereich Regie, welches er 1974 abschließt. Von 1976 bis 1991 ist Roland Steiner Regisseur im DEFA-Studio für Dokumentarfilme. Dort arbeitet er von 1977 bis 1979 in der Arbeitsgruppe Kinder- und Jugendfilm, wo er verstärkt an Dokumentarfilmen über junge Leute in der Großstadt arbeitet. Sein wohl beeindruckendes Dokument ist die 1989 gezeigte Dokumentation Unsere Kinder, in der er u.a. den Rechtsradikalismus von Jugendlichen in der DDR thematisiert. Neben dem Thema Jugendliche widmet sich Steiner zwischen 1986 und 1989 auch Porträtarbeiten über Heinrich Hannover, Günter Wallraff und Erich Fried. Nach 1990 arbeitet Steiner weiter an Filmen und leitet von 1991 bis 1993 die Fachrichtung Regie an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam Babelsberg. Danach orientiert sich Steiner noch einmal um und macht eine Ausbildung zum Therapeuten. Bis 1996 arbeitet er dann in einer Einrichtung für geistig und körperlich Schwerstbehinderte. Von 1995 bis 2000 war er als Leiter der journalistischen Fortbildung Campus Radio an der Universität Oldenburg tätig. Seit 1998 ist er für die Medienausbildung bei der Procon in Hannover zuständig. Er dreht weiterhin Filme und begibt sich in seinem derzeitigen Film auf eine Spurensuche seiner Filme der letzten Jahrzehnte.