Wie waren Ihre Träume und Hoffnungen in den achtziger Jahren? Wie sahen Sie die Gesellschaft der DDR zu dieser Zeit?
In den 80er Jahren befand ich mich in der Mitte meines Lebens, hatte nach dem frühen Tod meines Mannes und plötzlicher Alleinverantwortung für zwei Töchter vor allem viele persönliche Probleme zu bewältigen und war damit sehr beschäftigt. Für mich persönlich waren diese Jahre im Rückblick sehr produktiv. Ich arbeitete in einem Forschungsinstitut, und ich qualifizierte mich in dieser Zeit durch ein Zusatzstudium für marktwirtschaftliche Analysen afrikanischer Länder südlich der Sahara, die mit der DDR Wirtschaftsbeziehungen unterhielten. Schule und Studium hatten in der Frühphase der DDR stattgefunden ( 50er/60er Jahre), wo es bei mir und vielen Menschen große Hoffnungen gab, mit der DDR ein anderes, besseres Deutschland aufzubauen – ein friedliches, wo der Mensch im Mittelpunkt von Politik und Wirtschaft steht und nicht Kapital und Profit. Diese Hoffnung kippte Anfang der 80er Jahre auch bei mir, wobei ich mir da trotzdem nicht vorstellen konnte, letztlich wieder in einem kapitalistischen Land zu landen.
Ich habe in meinen Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahre 1982 zwei Eintragungen gefunden, die meine Ängste, meine Ratlosigkeit dieser Zeit widerspiegeln. Träume kamen darin nicht mehr vor.
Woran kann man festhalten? Resignation greift in erschreckender Weise um sich. Unsere Versorgungslage wird immer schwieriger. Missstände häufen sich. International spitzt sich alles zu. Gestern ist in der BRD wieder die CDU/CSU ans Ruder gekommen – treue Bündnisgenossen von dem kriegsbesessenen Reagan. Meine Kinder! Ich habe Angst um eure Zukunft! Wie war die Pointe eines Witzes? Die Ökonomen haben die Welt so verändert, dass unsere Philosophen sie nicht mehr interpretieren können. Was kann man tun? Was?
Diese ungeheure Ernüchterung über unsere sozialistische Wirklichkeit, über unsere begrenzten Möglichkeiten kostet Kraft. Denn jahrelange Erziehung, Theorie als Dogma haben ihre Wirkung getan. Es ist schwer, sich von manchen lieb gewordenen Vorstellungen zu lösen. Aber zurzeit beherrscht uns die Ökonomie. Nüchterne Tatsachen. Es gilt, als DDR zahlungsfähig zu bleiben, unter allen Umständen eine aktive Handelsbilanz zu erreichen…. Ja, es ist harter Klassenkampf auf ökonomischem Gebiet. Und der Imperialismus hat noch gewaltige Potenzen! Mein Studium nützt mir sehr. Ich lerne, viele Erscheinungen besser zu erkennen und zu deuten.
Erst Mitte der 80er Jahre entstanden mit Gorbatschow und Glasnost auch bei mir neue Hoffnungen, dass der Sozialismus reformierbar sei. Da gab es in meinem Institut–und ich denke an vielen Orten, wo Menschen zusammenarbeiteten und lebten–intensive Diskussionen darüber. Das war keine öffentliche Auseinandersetzung. Doch unterschwellig, da, wo Menschen sich vertrauten, wurde sehr kritisch über Politik und Wirtschaft unseres Landes geredet. Und es gab viel Unmut über die Haltung der Partei- und Staatsführung, die sich von Gorbatschow und Glasnost distanzierten.
Doch ich denke, dass es Mitte der 80er Jahre weder in der DDR noch in Westdeutschland viele Menschen gab, die sich vorstellen konnten, dass sich zum Ende des Jahrzehnts eine solche Ausreise- und Protestbewegung entwickeln und schon gar nicht, dass das gesamte sozialistische System ins Wanken geraten und zusammenbrechen würde.
Durch meine berufliche Tätigkeit habe ich mich sehr mit der Unterentwicklung und dem Neokolonialismus in den afrikanischen Ländern beschäftigt. Ich entsinne mich, dass wir untereinander in der Arbeitsgruppe diskutierten, dass offensichtlich in Afrika zunächst eine nachholende, kapitalistische Entwicklung stattfinden müsste, bevor sich diese Länder politisch und wirtschaftlich befreien könnten. Später haben wir uns gewundert, warum wir eine ähnliche These nicht auch auf sozialistische Länder angewandt haben, da sich ja viele von ihnen wie Rumänien, Bulgarien, Teile der Sowjetunion auf ähnlichem Entwicklungsstand befanden.
Die DDR blieb für mich und viele meiner Freunde und Kollegen bis zu ihrem Ende Heimat trotz der vielen Missstände und Widerwärtigkeiten. Die BRD als kapitalistisches Land stellte für uns keine Alternative dar. Da ich als Atheistin keinen Zugang zu kirchlichen Kreisen hatte, kam ich auch nicht mit der unter dem Dach der Kirche sich sammelnden Widerstandsbewegung in Berührung.
Zur Wendezeit und Anfang 1990 wurde schnell deutlich, dass die DDR-Bevölkerung gespalten war. Der eine Teil (einschließlich vieler engagierter Kulturschaffender, Intellektueller und auch Widerständler) wollte eine reformierte, demokratischere DDR, oft beschrieben als den sogenannten Dritten Weg, während der andere Teil, stark ausgerichtet an materiellen Vorteilen und Reisefreiheit, eine schnelle Wiedervereinigung anstrebte.
Warum finden Sie es wichtig, auch heute noch über die DDR zu reden?
Die gesellschaftliche Entwicklung des wiedervereinigten Deutschlands zeigt, dass der Beitritt der DDR zur alten BRD sehr einseitig erfolgt ist, nach dem Prinzip der früher bewährten Kolonialisierung anderer Länder. Die alte Bundesrepublik war Ende der 80er Jahre selbst in vielen Bereichen erstarrt, z.B. im Bildungswesen, und hatte größere wirtschaftliche Krisen zu bewältigen. Da kam die Übernahme der DDR gerade recht, um von eigenen Problemen abzulenken und sich als Sieger der Geschichte zu präsentieren.
Diese Übernahme erfolgte völlig ungleichberechtigt und ohne gesellschaftliche Zukunftsvisionen. Die Treuhand spielte bei der Zerschlagung des durchaus vorhandenen Wirtschaftspotentials der DDR und vorhandener Managementerfahrungen eine unselige Rolle. Entwicklungsstärken der DDR auf Gebieten wie polytechnische Bildung und einheitliche 10-Klassen-Schule, Polikliniken, Frauen im Berufsleben und Betreuung der Kinder in Kitas und Kindergärten, Bildungs- und Berufswege von Frauen, Recyclingsysteme von Abfällen, regionale Ernährung etc. wurden negiert und bei der weiteren Entwicklung nicht berücksichtigt. Gleichzeitig war die lange Zeit erfolgreiche, unter Konkurrenzbedingungen mit dem sozialistischen System entstandene, soziale Marktwirtschaft in Westdeutschland bereits Anfang der 90er Jahre durch die Anforderungen der sich abzeichnenden wissenschaftlich-technischen digitalen Revolution und Konkurrenzbedingungen auf dem Weltmarkt ins Wanken geraten und wurde dann mit dem Hartz-IV-System immer mehr unterhöhlt, was sich besonders negativ auf die Bevölkerung der ehemaligen DDR auswirkte. Die durchaus nicht einfache rechtliche, wirtschaftliche und politische Umstrukturierung der neuen Bundesländer in das System der alten Bundesrepublik erfolgte fast ausschließlich durch die Eliten Westdeutschlands, was sich bis heute in der Personalstruktur großer und mittlerer Wirtschaftsunternehmen, in Universitäten oder Rechtsinstanzen widerspiegelt.
Gleichzeitig gab es in den offiziellen Medien und Darstellungen über die DDR eine sehr einseitige, oft nur auf das Thema Stasi, Diktatur und Unfreiheit konzentrierte Berichterstattung über die DDR, die dem gelebten Leben der DDR-Bürger nicht gerecht wurde und nachhaltigen Unwillen bei vielen Menschen erzeugte, dessen Auswirkungen sich bis heute in politischen Entwicklungen der neuen Bundesländer zeigen.
Nach 30 Jahren steht Deutschland wieder vor einer Wende, wohl vor einer wesentlich größeren als 1990. Die nationale Entwicklung ist durch die Versäumnisse in der gesellschaftlichen Zukunftsorientierung erstarrt und schwerfällig. Das betrifft inzwischen fast alle Bereiche der Gesellschaft: Wirtschaft und Ökologie, Klimaschutz, Politik, Bildung, Gesundheit, Forschung, Einwanderung und Bevölkerungsstrategien… Fehler können schwer rückgängig gemacht werden. Da die nationale Entwicklung total mit der globalen verflochten ist und ein weltweit gnadenloser kapitalistischer Konkurrenzkampf um die Neuaufteilung von Ressourcen und Profit stattfindet, scheint Deutschland mit seiner Verharrungspolitik immer schlechtere Karten in Europa und der Welt zu haben.
Deutschland ist zwingend darauf angewiesen, überhebliche Positionen fallenzulassen und auf allen Gebieten nach zukunftsorientierten Problemlösungen zu suchen. Dabei kann u.a. ein vorurteilsfreier Blick rückwärts in das gesellschaftliche DDR-Modell nur nutzen, um auch da zukunftsweisende Ideen zu finden (Beispiele s.o.). Seit einigen Jahren entwickelt sich eine differenziertere Sicht auf die DDR. Gegenwärtig ist mir besonders die soziologische Untersuchung von Steffen Mau: Lütten Klein: Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft positiv aufgefallen, weil da am Beispiel einer Wohnsiedlung gezeigt wird, dass die Ostdeutschen noch immer aufgrund ihrer Vergangenheit andere Verhaltens- und Denkmuster haben und sich dies auch nicht so schnell ändern kann. Wird das zukünftig nicht stärker von der Politik beachtet, könnten sich die gegenwärtig schon sehr schwierigen gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen weiter zuspitzen.
Die DDR war zwar noch ganz der alten untergehenden Industriegesellschaft verhaftet und hatte in ihrer Volkswirtschaft aufgrund der niedergeschlagenen Reformbestrebungen in den 60er Jahren erstarrte Strukturen in einem rigiden kapitalistischen Umfeld, aber sie versuchte eine Gesellschaft aufzubauen ohne kapitalistischen Profit. Sie erzeugte damit weniger Ungleichgewichte in der Bevölkerung und hatte einen wesentlich größeren Spielraum bei der gesellschaftlichen Organisation sozialer Bedürfnisse. Sie setzte anstatt auf individuelle Freiheiten mehr auf die Entwicklung eines gesellschaftlichen Gemeinwohls – bei allen Schwächen und Fehlern. Mangel wurde oft in Erfindungsreichtum umgemünzt, der mit einfachen Mitteln größere Wirkungen erzielte.
Bewusst und freiwillig zu Einschränkungen in der privaten Lebensweise zu stehen, wie es heute angesichts des Klimawandels ein Gebot der Stunde ist, war aber wohl damals genauso schwer wie es heute ist.
Wir stehen heute in Deutschland vor ganz anderen Herausforderungen als es damals der Fall war, aber vorurteilsfreies Lernen aus der eigenen Geschichte oder von anderen (z.B. von gesellschaftlichen Bewegungen in skandinavischen Ländern) stände uns gut zu Gesicht.
Um ehrlich zu sein ist die Frage heute, ob Rückbesinnung auf die DDR noch nutzt, ziemlich ambivalent, weil sich ja die Verhältnisse weltweit radikal geändert haben. Vielleicht ist es generell einfach wichtig, immer wieder Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Bei der Rückbesinnung auf den Faschismus hat es ja auch sehr lange gedauert, um differenziertere Sichten zu finden. Ich bin überzeugt, dass manche gesellschaftlichen Ansätze in der DDR – vielleicht ist die Eigentumsfrage sogar die wichtigste, zu der ich gar nichts geschrieben habe – auch künftigen Generationen immer wieder Stoff zum Nachdenken geben werden.
Social developments in reunified Germany demonstrate how the accession of the GDR to the “old” FRG took place rather unilaterally, according to the tried-and-tested principle of colonizing other countries. In many ways, the “old” FRG had stagnated by the end of the 1980s, for example in the educational sector, and it had to overcome larger economic crises. The opportunity to “take over” the GDR came at a rather convenient time, which allowed the FRG to deflect from its own problems and to present itself as the winner of history.
This takeover happened entirely unequally, and without social visions for the future. The Treuhand agency played a disastrous role in the destruction of East Germany’s economic potential and existing management experiences. The GDR’s developmental strengths were all negated and ignored when it came to the further development in reunified Germany, for example in such areas as polytechnical education and standardized K-10 schools, polyclinics, women in the workforce, childcare in daycare centers and kindergartens, educational advancement and career paths for women, recycling of trash, locally-grown produce… At the same time, West Germany’s social market economy began to totter dangerously already at the beginning of the 1990s. It had developed under competitive conditions with the socialist system and had been successful for a long time but started to falter because of the demands of the soon-to-come scientific, technical, and digital revolution, as well as rising competition on the global market. The subsequent Hartz-IV legislation kept undermining it more and more, which had especially disastrous effects on the population of the former GDR. The legal, economic, and political rearrangement of the “new” federal states into the system of the “old” FRG—which was definitely not straightforward and simple—occurred almost entirely with the help of West German elites, which finds reflection even today in the personnel structure of large and medium-sized businesses, in universities, or in legal authorities.
Simultaneously, reports in official media and other portrayals of the GDR remained rather one-sided, often only concentrated on topics such as the Stasi, dictatorship, or the lack of freedom. This angle did not do any justice to the people who actually lived in the GDR, and it caused long-lasting displeasure. The effects are still noticeable today in the political developments of the “new” federal states.
After thirty years, Germany is once more facing a Wende, arguably a much more extensive one than in 1990. National developments have grown stiff and cumbersome because of failures connected with the societal orientation toward the future. Nowadays, such solidification concerns almost all sectors of society: economy and ecology, climate action, politics, education, health, research, immigration, and population strategies… Reversing mistakes is rather difficult. National developments are entirely interwoven with global progress, and we experience a worldwide, merciless, capitalist competition for the redistribution of resources and profit so that Germany seems to be at a disadvantage in Europe and the rest of the world with its Verharrungspolitik (politics of stagnation).
In order not to collapse, Germany must abandon its arrogant position and, instead, search on all fronts for solutions that are oriented toward the future. Looking back in history—without prejudice—to the social model of the GDR, for example, can only help us find forward-thinking ideas (examples see above). For a few years now, a more nuanced perspective on the GDR has emerged. Currently, the sociological study by Steffen Mau, Lütten Klein: Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, has made a positive impression on me because Mau uses the case study of a residential development to show that East Germans still have different behavioral and thinking patterns today because of their history—and this is something that cannot be changed quickly. If politicians don’t pay more attention to this in the future, these already difficult social developments could exacerbate even more.
Even though the GDR was fully entrenched in the old, fading industrial society and it experienced in its national economy inflexible structures in a rigid capitalist setting because of defeated reform efforts in the 1960s, the country tried to build a society without capitalist profit. Consequently, it created fewer imbalances in its population and had a substantially greater leeway to organize social needs. Instead of individual freedoms, the country focused on the development of the public good—with all its weaknesses and mistakes. Scarcity was often re-coined as inventiveness, which had greater effects with simple means.
But deliberately and voluntarily standing by the constraints in one’s private way of life—just like we experience today in the face of climate change—was just as hard then as it is now.
In today’s Germany, we are facing quite different challenges than we did back then, but impartially learning from our own history or from others (for example from social movements in Scandinavian countries or some of the developing countries) would suit us well.
To be honest, the current question of whether a return to the GDR is still useful is rather ambivalent because global conditions have changed so radically. Maybe it’s generally just important to keep learning from history. When we tried to learn from fascism, it also took a long time until more nuanced views were expressed. I am convinced that some of the social approaches in the GDR—maybe the question of ownership is the most important one, and I didn’t even touch upon that—will continue to provide food for thought for future generations.
Renate Gudat wurde 1940 in Berlin-Steglitz geboren. Da Wohnung und Drogerie der Eltern im Krieg zerbombt wurden, suchte sich die Familie 1946 in einem Dorf im Niederbarnim eine neue Existenz. Sie ging dort zur Schule und legte 1958 in Wandlitz ihr Abitur ab. Danach studierte sie bis 1962 an der Humboldt-Universität Berlin und wurde Lehrerin für Deutsch und Russisch in 10-klassigen polytechnischen Oberschulen und in der Erwachsenenbildung. Von 1969 bis 1972 lebte sie mit ihrer Familie in Tansania – ihr Mann arbeitete dort im Auftrag der DDR als tierärztlicher Spezialist und sie selbst als Lehrerin. Nach der Rückkehr in die DDR begann sie im Forschungsinstitut des Außenhandels der DDR als Dokumentalistin zu arbeiten und nach einem Zusatzstudium als wissenschaftliche Mitarbeiterin zu afrikanischen Ländern südlich der Sahara. 1990 wurde sie im Zuge der Umstrukturierungen arbeitslos. Ab 1992 bis zu ihrer Rente 2002 arbeitete sie als Geschäftsführerin in einem entwicklungspolitischen Verein, der sich in der Endzeit der DDR gegründet hatte. Bis heute ist sie ehrenamtlich in der kommunalen Partnerschaft zwischen Berlin-Lichtenberg und dem Bezirk Kamabukwana von Maputo, 1992 von Deutschen und Mosambikanern gemeinsam ins Leben gerufen, tätig.