Nummer 12 (anonym)

Erinnern. Schreiben. Ich sehe die Schwierigkeiten, die Gefahren. Schreiben wird zu schwerer Arbeit.

Wie sollen wir, wie soll ich von heute aus sagen, was damals war. Ich weiß ja nicht einmal, welche Perspektive beim Schreiben einzunehmen ist, die heutige die sowieso alles überdeckt und die Vergangenheit ganz und gar verändert wahrnimmt? Die aus der Zeit, nach der gefragt wird? Würde mein damaliges Ich mir das gestatten, von heute aus mit grauen Haaren, Bauch und 60 Stunden Arbeitswoche über es zu berichten. Sollte ich nur von mir, dem ich oft selbst nicht traue, berichten oder versuchen, von unserem großen Schatz unserer gemeinsamen Verbundenheit im Plural zu schreiben? Ich kann es nicht entscheiden.

Die Fragen, die uns da gestellt werden, sind die die richtigen Werkzeuge, um an die Vergangenheit heranzukommen? Es sind ja nicht meine oder unsere Fragen an die vergangene Zeit. Passen die Schraubenzieher überhaupt zu den Schrauben in meinem Kopf?

Was war, was glaube ich, das war?

Beinahe eben auf die Welt gekommen, erwachten wir in einer Welt, in der fast alles geregelt zu sein schien. Unser Leben, die Aufteilung der Welt, das Kleine und das große Ganze. Too much future? Nein! No future! Die Pläne, die für jeden von uns bereits festgeschrieben waren, das waren Pläne aus der Vergangenheit, ohne Zukunft. Statische Pläne aus der Vergangenheit, geschrieben von Leuten aus der Vergangenheit auf Grund ihrer Erfahrungen mit der Vergangenheit. Es war in deren Vergangenheit ihre idealisierte Vorstellung von Zukunft, in der unsere noch nicht einmal entwickelten Vorstellungen überhaupt keine Rolle spielen sollten. Wir sollten die Enkel werden, die es besser ausfechten würden.

Wir ahnten und befürchteten für immer in Lebenswegen, in Berufen fest stecken zu müssen, die oft nur die zweite, dritte Wahl oder das kleinere Übel waren. Es sah so aus, als ob wir ein Leben lang der gleichen stumpfsinnigen Maloche unterliegen würden. Wir hatten, so sah es zumindest aus der Perspektive des Anfängers aus, keine wirkliche Chance, etwas zu erleben.

Und dann kam uns das Leben selbst zu Hilfe. In Form unserer Neugier, unserer noch ungebrochenen Lebensfreude. Mehr oder weniger vorsichtig haben wir die Köpfe gehoben und einfach, ohne Berechnung des Kurses, gesucht. Freundschaften, die Liebe, das Begehren, den Sinn, die Unvernunft, Fragen gestellt. Das ging nicht lange gut, ohne die Aufmerksamkeit der alten Lebenslaufplaner zu wecken. Indem wir suchten und versuchten, unser Leben zu führen, stellten wir, ohne es zunächst erst einmal unbedingt so gewollt oder geahnt zu haben, ihre Pläne in Frage. Und bald zeigten sie uns die Instrumente. Dem einen früher, dem anderen nicht viel später. Unsere Gegenwart kollidierte mit den Vorschriften, die aus der Vergangenheit resultierten.

Mit Erstaunen sehe ich auf unseren jungen Mut zurück, die Selbstverständlichkeit, mit der wir unsere Fragen stellten und auf die Beharrlichkeit, mit der wir nach den Antworten suchten. Wie unbeschwert wir die Maßstäbe der Mächtigen an sie selber anlegten. Es kam, wie es kommen musste, unsere sich noch entwickelnde Art zu leben, stellte zuerst den Sinn und bald auch das Funktionieren des Systems aus alten Regeln in Frage. Die Eskalation wurde unausweichlich. Wer weiß, was aus uns geworden wäre, wenn die DDR so noch fünf Jahre länger existiert hätte.

Wir hatten keine Standpunkte, wir waren in Bewegung. Wir waren doch erst dabei, die Welt und uns zu entdecken. Nun mutwillig geworden auszuprobieren, was noch gehen würde. Wir bewegten uns zwischen den Plätzen hin und her. Wir hatten Kontakt mit allen und jedem. Wir waren überall dabei und viele waren bei uns dabei. Die Unterschiede waren nicht immer deutlich sichtbar und die Grenzen oft verschwommen. Erst viel später ist es mir deutlich geworden. Das große Glück. Wir waren Teil von etwas wunderbarem, ein riesengroßer Kreis von Freunden und wenn nicht gleich, so doch (wenigstens eine Zeit lang) ähnlich Gesinnten. Wir hatten etwas mit einander zu tun.

Das war es, was uns ausmachte, was etwas aus machte. Das miteinander Tun. Das gemeinsame Reden und Denken vor, während und nach dem Tun, dann schon wieder vor dem Tun. Das oft sehr entschlossene Handeln. Trotzdem wieder und wieder die Zweifel und Fragen zu diskutieren. Dadurch haben wir uns, unsere Sicht auf die kleine und die große Welt entwickelt, verändert, sind zu politischen Akteuren dieser Zeit und darüber hinaus geworden. Und das ist es auch, was bis in unsere Gegenwart hinüber reicht.

Ich habe mich nie als Bürgerrechtler bezeichnet oder uns als Oppositionelle gesehen. Ich meine zu wissen, dass wir leben wollten. Auf unsere Art.