Was waren Ihre Träume und Hoffnungen in den achtziger Jahren? Wie sahen Sie die Gesellschaft der DDR zu dieser Zeit?
Altersbedingt unterscheiden sich die Hoffnungen, Träume und die Sicht auf die Gesellschaft der DDR für mich Anfang und Ende der 80er. Ich wurde am 1. September 1980 eingeschult und beendete die Oberschule in der 10. Klasse im Juni 1990. Somit deckt sich die Schulzeit genau mit den letzten zehn Jahren der Existenz dieses Staates. Man wird erst einmal, egal wo man in der Welt ist, direkt dort in die Gesellschaft hineingeboren, wo die Eltern leben und stellt gar nichts in Frage. Ich lernte Lesen, Schreiben und Rechnen, dabei versuchte man uns beizubringen, dass wir die glücklichen Menschen sind, die auf der Gewinnerseite der Geschichte fest verbunden mit der friedliebenden Sowjetunion, frei von Ausbeutung leben. Wir lernten sehr schnell, dass das Kollektiv im Vordergrund zu stehen hat. Dieser Zustand würde vom US-Imperialismus mit Atomwaffen bedroht werden. Mangelwirtschaft, Tauschwirtschaft und die damit verbundenen Unannehmlichkeiten wurden uns damit erklärt, dass auch im Sozialismus noch nicht der Idealzustand erreicht sei. Dass ich meinen Großonkel in Darmstadt in den Schulferien im Februar 1983 nicht mal kurz besuchen kann, konnte ich nicht verstehen als Kind, zumal meine Mutter mit Jugendtourist (DDR Reisebüro für junge Leute) 1982 für eine Woche in der BRD war, mit meiner Schwester und mir als „Faustpfand“ quasi in der DDR. Die Beerdigung von Leonid Breschnew mussten wir live in der Schule im Fernsehen schauen und die Eskalationen im Kalten Krieg (z.B. der Abschuss der südkoreanischen Maschine KAL007 am 1. September 1983 durch sowjetische Abfangjäger und die Reaktion von US-Präsident Reagan darauf „Landeverbot für alle sowjetischen Maschinen“) machten mir persönlich auch im Alter von zehn Jahren Angst. Die Informationsquellen waren sowohl DDR und westliche Medien, letztere natürlich auf Rundfunk und Fernsehen beschränkt. Ich hörte NDR 2 (Norddeutschen Rundfunk aus Hamburg) und wir konnten das Erste und Zweite deutsche Fernsehen sowie als drittes Programm den Sender Freies Berlin empfangen. Das spielte eine große Rolle für die weitere Entwicklung und Prägung, nicht nur in Bezug auf Nachrichten. Auch in Sachen Musik entwickelte ich bereits in jungen Jahren eine Vorliebe für westliche Musikgruppen und Künstler. Die Fernsehendung „Formel Eins“ im Dritten Programm mit Videoclips zu Liedern und die ZDF-Hitparade weckten großes Interesse bei mir, auch für englischsprachige Musik, ohne diese Fremdsprache anfangs zu verstehen. Der Englischunterricht fing für mich erst 1986 in der Schule an. Ich lehnte bis zum Schluss jegliche DDR Musik kategorisch ab, gar nicht so aus musikalischen Gründen, sondern sich freiwillig im privaten Bereich zu etwas zu bekennen mit dem Label „DDR“ kam überhaupt nicht in Frage. Das kann ich auch für meinen unmittelbaren Freundeskreis von damals sagen. Es war geradezu verpönt und wäre peinlich gewesen, nicht auf Depeche Mode, The Cure, Die Ärzte oder Pet-Shop-Boys zu stehen. Insofern ist der Mythos, dass wir nur Puhdys und Karat hörten bis heute in vielen Rückblicken ein oberflächliches Klischee, was mit der Realität meiner Generation nichts zu tun hat. Im Sport verhielt es sich anders, hier waren wir die DDR in einer Underdog-Rolle auf der großen Weltbühne, ob bei Olympia oder im Europapokal des Fußballs, hier standen wir in der Regel immer hinter unseren Sportlern und Mannschaften. Es spielte eine Art Lokalpatriotismus eine Rolle und es war echte Wertschätzung der Leistungen, was nichts mit der Zustimmung zum Staat selbst zu tun hatte, auch wenn es unter der Flagge dieses Landes stand.
Mit zunehmendem Alter entwickelte sich mehr und mehr in mir eine kritische Haltung gegenüber dem Gesellschaftssystem der DDR in der zweiten Hälfte der 80er Jahre. In der Schule wurde es zunehmend politischer in den Oberstufenjahrgängen, vor allem in den Fächern Geschichte, Staatsbürgerkunde, Russisch, Musik, Geographie und in „Wehrkundeunterricht“, letztes ohne Zensuren vorgetragen von einem Major der NVA nach der Schule in der 10. Klasse. Weiterhin erkannte ich immer mehr eine große Diskrepanz zwischen der offiziellen Selbstdarstellung der DDR und der täglichen Realität. Ein Vergleich zum Westen drängte sich von selbst auf, wenn man sich fragen musste, warum man für den Kauf bestimmter Lebensmittel viel Glück und Geduld in der Schlange zu stehen haben musste, oder vieles nur mit Beziehungen und Tauschwirtschaft möglich war. Die Erfahrungen als Jugendlicher in den örtlichen Betrieben, die Filmfabrik Wolfen und das Chemiekombinat Bitterfeld (CKB), ob als Teil des Schulfachs „PA – Produktive Arbeit“ oder als Ferienjob, ermöglichten einen Einblick in die sehr wahrscheinliche zukünftige Arbeitswelt nach der Schule. Es war ein heilsamer Schock. Früh morgens mussten wir wie die Arbeiter dort um 6.30 Uhr anfangen in völlig veralteten Betrieben im Gestank der Chemie überall. Aus den Rohren, die über die Fabrikstraßen ragten, tropfte es manchmal heraus. Die Arbeiten selbst waren oft stumpfsinnig und langweilig, ob im Dunkelraum der Filmproduktion oder beim Feilen an Metallstücken in Werkstätten. Das Westradio war jeden Tag nach Schulschluss für mich eine kleine Zuflucht, Augen zu und NDR2. In der Fantasie war ich jeden Tag in Hamburg, hörte die Nachrichten inklusive Verkehr und Wetter. Ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern, jemals DDR-Radio gehört zu haben. Das DDR-Fernsehen spielte nur bei Spielfilmen oder Sportübertragungen eine Rolle. Bei Aktueller Kamera oder gar der Propagandasendung „Schwarzer Kanal“ wurde direkt umgeschaltet. Die ersten Diskobesuche folgten ab 1988, es wurde ausschließlich westliche Musik gespielt und wir haben es alles als normal empfunden. Innerlich hatte ich bereits ab 1988 mit der DDR für mich abgeschlossen und mich gedanklich schon darauf eingestellt, dass ich auf jeden Fall vor der Armeezeit weggehen werde. Glücklicherweise war die Geschichte schneller und das blieben alles nur Gedankenspiele.
Welche Reformbewegungen oder Gruppierungen gab es in den Jahren vor der Wende von denen Sie gehört haben?
Durch das Westfernsehen, insbesondere der Sendung „Kontraste“ und „Kennzeichen D“ kannte ich „Schwerter zu Pflugscharen“ und die „Initiative für Frieden und Menschenrechte“. Generell wusste ich, dass unter dem Dach der Kirche bestimmte Sachen freier und offener diskutiert werden konnten, ohne je dabei gewesen zu sein.
Wie haben Sie diese selbst erlebt, und (wie) waren Sie selbst involviert?
Ich war zu jung und hatte auch zu viel persönliche Angst, um mit 15 Jahren direkt an Aktionen oder gar Demonstrationen teilzunehmen. Mein persönliches Aufbegehren begrenzte sich auf herausfordernde Diskussionen im Staatsbürgerkundeunterricht und gipfelte mit dem Austritt 1988 aus der GDSF (Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft). Dieser Schritt hatte mehrere Gespräche mit Lehrern (Staatsbürgerkunde) zur Folge und ich ruderte zurück und lenkte die Begründung in eine eher nichtpolitische Richtung, um meinen Schulabschluss nicht zu gefährden. Am 31. Oktober 1989 war ich auf meiner ersten freien Demonstration in der Heimatstadt Wolfen vor dem Rathaus mit dabei, wo auch Leute vom Neuen Forum sprachen. Es war bereits in der Dialogzeit, nach dem 9. Oktober ’89 in Leipzig aber noch vor dem Mauerfall kurz später. Ich bin im Nachhinein froh, miterlebt zu haben, als der Bürgermeister das erste Mal in seinem Leben vor den Regierten Rede und Antwort stehen musste. Am Abend noch mal kurz zur Demo daheim, bevor es am 01. November ’89 zur Klassenfahrt in die Sowjetunion (Kiew) ging. Dort erfuhren wir über die letzten Entwicklungen in der DDR jeden Morgen von der Dolmetscherin im Tourbus. Als wir am 6. November ’89 zurück in Berlin ankamen, staunten wir darüber, wie viele Dinge sich schon wieder innerhalb von Tagen geändert hatten.
In welcher Form hatte die Reformbewegung Einfluss auf Ihre Arbeit nach 1989, und wie beeinflusst diese Ihre Arbeit oder Engagement noch heute?
Die Revolution von 1989 ist eine bleibende Erinnerung in meinem Leben. Niemand konnte sich vorstellen, dass nur ein Jahr später Deutschland wiedervereinigt werden würde, oder dass das SED-Regime zusammenbrechen könnte. Ich habe durch das Jahr 1989 hautnah erlebt, das Dinge, die scheinbar fest zementiert und als unumkehrbar dargestellt werden, niemals so bleiben müssen.
Welche Zusammenhänge sehen Sie zwischen den damaligen Aufbruchsbewegungen und den heutigen?
Der Umbruch von 1989 hat gezeigt: wenn sich viele Leute einig sind, können sie etwas bewegen. Kurz nach der Wende lernten wir langsam Laufen in der Demokratie, sich eigene Meinungen zu bilden und Gegenmeinungen zu hören und dabei trotzdem menschlich nicht den Anstand und Respekt für einander zu verlieren, auch gegenüber ehemaligen Machthabern, SED-Genossen und sonstigen Mitläufern. Daneben war „Keine Gewalt“ ein Motto und Slogan der friedlichen Revolution. Diese Aspekte müssen heute in der politischen Auseinandersetzung in Erinnerung gerufen werden, in Zeiten, in der Sprache, teilweise verroht, und politisch motivierte Gewalt vorkommt.
Warum finden Sie es wichtig, auch heute noch über die DDR zu reden?
Die DDR existierte 40 Jahre lang. Eine große Zeitspanne für nicht nur ein Menschenleben. Die Lebenszeit und die geformten Biografien mehrerer Generationen auch über das Jahr 1989 hinaus wurden durch dieses System geprägt für circa 17 Millionen Menschen. Die dunkle Seite dieser Diktatur (z.B. Willkürjustiz, Todesopfer der Grenze oder Zwangsadoptionen) müssen schonungslos aufgearbeitet werden und auch einen Weg in die öffentliche Diskussion des heutigen Deutschlands finden, um einer zu beobachtenden Verklärung („Ostalgie“) entgegenzuwirken. Der Wert von Rechtsstaat und Demokratie, speziell auch für junge Menschen, kann daran praktisch sehr gut erklärt und erfahrbar gemacht werden. Des Weiteren steht in geschichtlichen Rückblicken über Deutschland im öffentlichen Raum, egal in welcher Kategorie (Sport oder Kultur), sehr oft die alte Bundesrepublik Deutschland im Fokus, ohne dass der andere deutsche Staat überhaupt Erwähnung findet.
The GDR existed for 40 years. This is a huge time span not just for one person’s life. This system shaped the lifetime and formed the biographies of many generations, approximately 17 million people, even beyond 1989. The dark side of this dictatorship (e.g., arbitrary justice, death at the border, or forced adoptions) has to be examined ruthlessly, and it has to find its way into public discourse to counteract a glorification of the East (Ostalgie). It works well to explain and make tangible the significance of a lawful state and of democracy with the help of the GDR system, especially to younger people. Moreover, in historical reviews and evaluations, be it sports or culture, the former Federal Republic remains the focus, without any mention of the other German state.
Marko Gebel wurde 1974 in Wolfen (Sachsen-Anhalt) geboren. Von 1980 bis 1990 besuchte er die Polytechnische Oberschule und absolvierte danach eine Ausbildung zum Industriekaufmann. 1995 zog er nach München, wo er in verschiedenen Unternehmen im kaufmännischen Bereich arbeitete. Nebenberuflich machte er eine Fortbildung zum Industriefachwirt und ein Studium zum Betriebswirt (VWA) an der Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie München und einen Bachelor of International Management an der FOM Hochschule für Ökonomie und Management. 2010 zog er nach Melbourne (Australien), wo er ebenfalls im kaufmännischen Bereich tätig war. Von 2011 bis 2014 schrieb er für Deutsche in Melbourne. 2014 gründete er das German Meetup Kino, ein Vorgänger des German Cinema Melbourne, welches im August 2017 offiziell in Betrieb ging.