Was waren Ihre Träume und Hoffnungen in den achtziger Jahren? Wie sahen Sie die Gesellschaft der DDR zu dieser Zeit?
In den 1980er Jahren war ich ein Schulkind – ich bin 1982 eingeschult worden und habe in einer ostdeutschen Kleinstadt in Brandenburg gelebt. Für mich war die Welt im Großen und Ganzen in Ordnung, ich hatte eine sehr nette Klassenlehrerin und habe mich in der Schule wohl gefühlt. Meine Ideen und Träume gingen dahin, dass ich gerne ein sinnvolles und erfolgreiches Leben gestalten wollte: einen guten Schulabschluss erlangen und vielleicht ein Studium beginnen, das waren meine Ideen. Da ich in einem Ärztehaushalt aufgewachsen bin, war eine akademische Laufbahn für mich wie vorprogrammiert. Mit zunehmendem Alter stellte ich fest, dass es für Kinder aus intellektuellen Familien aus politischen Gründen (es war eben ein Arbeiter- und Bauernstaat, bürgerliche Lebensstile wurden kritisch betrachtet) nicht unbedingt selbstverständlich war, studieren zu dürfen. Ich hoffte also sehr, Abitur machen zu dürfen, was sich in der DDR erst nach der 10. Klasse endgültig entschied. Als sehr gute Schülerin wurde ich auch dazu angehalten, mich in der Pionierorganisation zu engagieren. Dies brachte mir zum ersten Mal ein Erlebnis von innerem Widerstand ein. Ich engagiere mich noch heute sehr gerne freiwillig, aber damals schon entschieden weniger, wenn dies mit Druck und aus politischen Gründen von mir verlangt wurde. Ich hatte deswegen öfter mal Auseinandersetzungen mit meiner Klassenlehrerin und der Pionierleiterin. Diese verlangten von mir aufgrund meiner Leistungsfähigkeit in der Schule, dass ich mich auch politisch einbringen sollte. Dazu hatte ich, ehrlich gesagt, wenig Lust, da dies überhaupt nicht meine Interessen traf. Die politische Dimension meiner Verweigerung hatte ich allerdings zu dieser Zeit nicht erfasst. Meine Eltern unterstützten meine Interessen sehr und überredeten mich auch nicht dazu, irgendwelche Aktivitäten zu entfalten, die ich nicht wollte. Das dies bei der Schulleitung und einigen Lehrer*innen auf kritische Skepsis stieß, blieb mir nicht verborgen. Letztendlich bin ich im September 1989 als erste in meiner Schule aus der FDJ ausgetreten, was einen mittleren Skandal auslöste. Getragen wurde meine Entscheidung von der Fluchtwelle des Sommers 1989 und der Gründung des Neuen Forums am 9. September 1989 in Ost-Berlin. Deswegen schließt sich für mich auch ein Kreis, wenn ich 30 Jahre später als Vertreterin der „Dritten Generation Ostdeutschlands“ auf der Festveranstaltung zur „Gründung von Bürgerbewegungen und neuen Parteien als Meilenstein für die Friedliche Revolution“ auf dem Podium sitzen darf. Die Gesamtschau der 1980er Jahre ist bei mir eine positive: Ich denke viel an schöne Sommerferien an Brandenburgs Seen, in Ferienlagern und mit der Familie. Es sind einfach die Erinnerungen an eine Kindheit in der DDR, wie sie viele haben: alle anders, aber ein bisschen gleich.
Welche Reformbewegungen oder Gruppierungen gab es in den Jahren vor der Wende? Wie haben Sie diese selbst erlebt, und (wie) waren Sie selbst involviert?
Ich erinnere mich politisch weniger intensiv an die Zeiten vor der Wende, lediglich daran, dass mein Vater in einer kirchlichen Behinderteneinrichtung jeden Mittwoch Sprechstunde machte, wohin ich ihn begleitete. Dort gab es oft Spielzeug oder Bastelsachen aus dem Westen, was mich zum Nachdenken anregte und mir klar machte, dass die evangelische Kirche eine besondere Position in der DDR innehatte. Es gab auch politische Flüstereien, von denen ich als Kind allerdings nicht so viel mitbekommen habe. Nur das Gefühl blieb, dass hier eine gewisse widerständige Atmosphäre oder eine oppositionelle Stimmung herrschte. Mir war auch, ohne dass es mir gesagt wurde, völlig klar, dass ich mit bestimmten Menschen über diese Einrichtung nicht reden würde. Dies war allerdings alles mehr eine Art Intuition und weniger eine konkrete, bewusste Handlungsorientierung. Zu Wendezeiten sang ich in einem evangelischen Kinderchor. Dort spürte ich sehr, dass im Kirchenraum gewisse politische Freiheiten herrschten und auch eine andere Ideologie als in der Schule vertreten wurde. Dies machte mir als junges Mädchen von 12/13 Jahren deutlich, dass es in der DDR auch Parallelgesellschaften gab.
In welcher Form hatte die Reformbewegung Einfluss auf Ihre Arbeit nach 1989, und wie beeinflusst diese Ihre Arbeit oder Engagement noch heute?
Ich erinnere mich sehr deutlich an den Besuch von Michael Gorbatschow in Berlin und dass meine Freundinnen, die aus Berlin stammenden, mir Gorbatschow-Anstecker mitbrachten. Mir war völlig klar, dass Gorbatschow für einen reformierten Sozialismus stand und dass in der Sowjetunion sich einiges bewegte. Von diesem Gefühl und der damit verbundenen Aufbruchstimmung wurden nicht nur ich, sondern auch meine Familie und mein privates Umfeld erfasst. Ich habe das als eine euphorische und sehr positive Stimmung erlebt und freute mich darüber, dass offenbar eine zukunftsorientierte und von Beteiligung getragene Atmosphäre in meinem Umfeld herrschte. Im Sommer 1989 waren wir in der Slowakei im Urlaub und die Diskussionen mit Menschen, die wir unterwegs trafen, wurden offener, und eine politische Debatte reite sich an die andere. Mich hat das insofern beeinflusst, als dass ich die Freude am politischen Diskurs erlernte und Gewissheit darüber erlangte, dass sich Mitdenken und Mitmachen auszahlt. Sicherlich hat die Wahl meines Studienfachs Politikwissenschaft auch mit diesen Erlebnissen zu tun. Ich wollte es ganz genau wissen: wie funktionieren Macht und Demokratie! Heute ist ehrenamtliches, politisches Engagement für mich eine Ehrensache und Selbstverständlichkeit.
Welche Zusammenhänge sehen Sie zwischen den damaligen Aufbruchsbewegungen und den heutigen?
Ich denke, 30 Jahre nach der friedlichen Revolution ist historisch eine gute Gelegenheit (nachdem viele Hindernisse, Wirrnisse und auch Schwierigkeiten eines komplexen Transformationsprozesses in Ostdeutschland überwunden sind), sich die emotionalen und biographischen Besonderheiten dieser Umbruchzeit genauer anzuschauen. Damit meine ich eine ernsthafte und persönliche Auseinandersetzung aller Bürger*innen mit der gemeinsamen 30-jährigen Geschichte der Wiedervereinigung. Es ist doch auffällig, dass oft im Diskurs Wirkungen der Wiedervereinigungsgeschichte als eine ostdeutsche Spezialität verstanden werden. Ich wünsche mir sehr, dass auch die Westdeutschen diese Wiedervereinigungsgeschichte als die ihre annehmen und überlegen, welche Beiträge sie leisten können. Damit meine ich ein ernstgemeintes Interesse an dem, was in Ostdeutschland in diesen 30 Jahren passiert ist, bzw. welche Leistungen die Ostdeutschen in diesem Transformationsprozess vollbracht haben. Welchen persönlichen Beitrag jede und jeder Einzelne in Form von starken Anpassungsleistungen, starken biographischen Veränderungen und großem Engagement im Beruflichen oder Privaten mitgebracht hat. Nicht zuletzt geht es auch darum, zu diskutieren, wie sich auch Westdeutschland hin zu einem Gesamtdeutschland entwickelt hat und welche persönlichen, nicht monetären Beiträge hier noch schlummern. Alle Bürger*innen müssen die Einheit als ein gemeinsames Projekt begreifen, damit es gelingen kann.
Warum finden Sie es wichtig, auch heute noch über die DDR zu reden?
Dr. Judith Christine Enders wurde 1976 in Altenburg, Thüringen geboren. Enders studierte Politikwissenschaften am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Nach New York und der Rutgers University/USA 2004, promovierte sie 2007 in Gesellschaftswissenschaften an der Universität Kassel. Von 2009 bis 2012 betrieb sie Nachhaltigkeitsforschung am „Institute for Advanced Sustainability Studies“ an der Universität Potsdam. Sie ist Mitbegründerin der Initiative „Dritte Generation Ostdeutschland“ sowie des daraus hervorgegangenen Vereins „Perspektive hoch 3 e.V.“. Für ihr Engagement bei der Initiative „Dritte Generation Ostdeutschland“ erhielt sie 2013 den Gustav Heinemann Preis. Seit 2014 ist sie Dozentin im Masterstudiengang „Netzwerkmanagement Bildung für eine nachhaltige Entwicklung – Schwerpunkt Kindheitspädagogik“ an der Alice Salomon Hochschule Berlin und Kuratoriumsmitglied. Sie ist außerdem zertifizierte Mediatorin und systemischer Coach. 2019 wurde sie ehrenamtliches Vorstandsmitglied des Vereins „perspektive hoch 3“ und Mitglied der Kommission der Bundesregierung „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“.