Peter Rausch

Was waren Ihre Träume und Hoffnungen in den achtziger Jahren? Wie sahen Sie die Gesellschaft der DDR zu dieser Zeit?

Da war die „Technologische Lücke“ zwischen Ostblock und Westeuropa und weiter zur USA, die in den 80ern unaufhaltsam größer und größer wurde. Die sozialistische Ökonomie bot dagegen weder Auswege noch Konzepte. Wenn es da Hoffnung gab, dann war die auf eine entfernte Zukunft gerichtet, Öffnung der Gesellschaft, Freiheit für den Einzelnen und alternative Gruppen, neue, junge, souveräne Generationen in Politik, Wirtschaft, Kultur, Bildung und Wissenschaft. Funkelnagelneue Gestaltungskraft.

70er Jahre, © Peter Rausch

Meine Hoffnungen fokussierten sich seit den 70er Jahren auf Emanzipation menschlicher Sexualität. Damit untrennbar verbunden eine tatsächlich neue, gerechte, friedliche und menschliche Gesellschaft. Das war mein Thema auch in den 80ern und ist es bis heute. Dazu werde ich hier meine Antworten geben.

Die bürgerliche Welt, im 19. Jahrhundert zu allumfassender Macht gekommen, formte in kürzester Zeit auch menschliche Sexualität nach kapitalistischem Maß:

  • konfektionierte und standardisierte Sexualität wie etwa in „bürgerlicher Ehe“, „Kuppelparagraf“, „Abtreibung“, „Doppelmoral“ und „rollengerechtes Vorspiel“,
  • katalogisierte Sexualität wie etwa in Rubriken „Homosexualität“ und „Heterosexualität“,
  • einpreiste Sexualität wie etwa in „sexuelle Abirrungen“, „natürlich“, „sauber“, „pervers“, „krank“, „Triebderivate“ und „fehlgeleitete Epimarker“.  

Schließlich passte menschliche Sexualität massenhaft in Mietskasernen und Personenstandsregister. Bis heute. Aber die bürgerliche Welt hat der menschlichen Sexualität auch Begriffe, Sprache und Wissenschaft gegeben, wenn auch eher abweisend und abschätzig.

Welche Hoffnung erweckte die DDR nun zum Thema homosexuelle Emanzipation?

  1. Die DDR hätte von Anfang an ohne §175 existieren müssen und existieren können. Die linken Traditionen – Sozialdemokraten, Kommunisten und fortschrittliches Bürgertum – hatten den §175 schon Anfang der 30er fast abgeschafft.
  2. Als ich 1966 mit 16 Jahren endlich meine partnerschaftliche Sexualität ausprobieren wollte, war ich im nächsten Augenblick ein Verbrecher. Noch zwei Jahre gab es in der DDR den §175. Schweigen, Sprachlosigkeit und Hilflosigkeit in der DDR-Öffentlichkeit. Mit 16 war ich nicht auf die Idee gekommen, dieser Paragraf wäre falsch. Ich war falsch und fragte mich immer wieder, wie ich denn nun zum Verbrecher geworden war. Mein Coming out dauerte fünf Jahre.

Trotzdem hoffte ich bis weit in die 80er, dass diese DDR-Parole „Allseitige Entfaltung der sozialistischen Persönlichkeit“ nun endlich ihren Anfang nimmt. Drei Jahre vor der Wende begann eine merkwürdige Liberalisierung zum Thema Homosexualität. Die Wende kam nicht vom Herzen, sie hatte taktisches Kalkül. Tatsächlich wollte die DDR 40 Jahre lang nur diese eindimensionale Vater-Mutter-Kind-Heimat sein.

Welche Reformbewegungen oder Gruppierungen gab es in den Jahren vor der Wende, von denen Sie gehört haben?

Von 1973 bis 1979 arbeitete in der Hauptstadt der DDR die „Homosexuelle Interessengemeinschaft Berlin“ (HIB). Es war die Zeit des 40er-Hosenbeinschlags, der 7cm-Plasteklötze unterm Hacken und des zur Innenrolle geföhnten Kopfhaars.

Für die Gründer der HIB, Michael Eggert, Peter Rausch und Michael Keller gab es keine Zweifel: Homosexuelle Emanzipation ist Teil eines erfolgreichen Sozialismus, nur die Verantwortlichen wissen das noch nicht. Also sollte es die HIB den Verantwortlichen beibringen.

Michael Eggert, Charlotte von Mahlsdorf, Peter Rausch, 70er Jahre, © Peter Rausch

1983, vier Jahre nach dem Verbot der HIB, lud Uschi Sillge zur Neugründung einer emanzipativen Gruppe ein. Uschi hatte schon in der HIB mitgearbeitet, ein DDR-weites Lesben-Treffen organisiert und bei den Verhandlungen der HIB mit dem Staatsapparat mitgewirkt.

Mit dieser Einladung begann die HIB neues Leben zu bekommen. 1985 konnte Uschi Sillge die beiden Leiter eines Jugendclubs am Veteranenberg dazu bewegen, schwullesbische Veranstaltungen unter dem Titel „Sonntags im Club“ zu organisieren. Bald schon gesellte sich eine Tanzveranstaltung im Franz-Club dazu. Die Postgruppe des SC bekam aus allen Teilen des Landes Anfragen und Hilferufe. Eine Zusammenarbeit mit dem „Interdisziplinären Arbeitskreis Homosexualität“ der Humboldt-Universität entwickelte sich. Uschi ergatterte eine Druckgenehmigung für Materialien des Sonntags-Clubs. Initiativen in anderen Städten außerhalb der evangelischen Kirche vernetzten sich. Weit öffneten sich die Türen der Berliner Klubs, vom Jugendclub bis zum Bauarbeiter-Club. In der zweiten Hälfte der 80er beflügelte eine merkwürdige Wende die Freizeiteinrichtungen. Alle wollten etwas abhaben von der homosexuellen Liberalisierung der „Gesellschaftlichen Arbeit“ in der DDR.

Am 10. November 1989, einen Tag nach der Maueröffnung und einen Tag nach der Premiere des DEFA-Films „Coming Out“ beschloss der Sonntags-Club in einer Erdgeschosswohnung in der Choriner Straße seine erste Vereinssatzung. Diese unvermietete Wohnung diente damals dem SC als Anlaufpunkt. Hier trafen sich die Arbeitsgruppen, Gesprächskreise und auch der Clubrat.

Wie haben Sie diese selbst erlebt, und (wie) waren Sie selbst involviert?

Die HIB war in den 70er Jahren schrittweise verboten worden bis jeglicher Lebensraum versperrt war. Emanzipationsgruppen, die wir in Leipzig und Dresden initiiert hatten, lösten sich wieder auf. Kneipen wurden geschlossen. Die Homos und Bis lebten ihr Leben wie eh und je im Geheimen und Dunkeln. Im ganzen Ostblock kein Zeichen für Aufbruch. Bis heute kann man Regionen des Warschauer Pakts nachzeichnen, wenn man die Intensität der Homophobie zum Maß nimmt.

Mitte der 70er, nach Abschluss meines Studiums, hatte ich angefangen, schwule und bisexuelle Kurzgeschichten zu schreiben. Mein Ziel war, bei einem DDR-Verlag ein kleines Bändchen Kurzgeschichten unterzubringen. Ich hoffte, mit etwas literarischer Aufmerksamkeit vielleicht eher zum Gesprächspartner in einem zentralistisch regierten Land zu werden.

Silvester 1989-90, © Peter Rausch

„…Warum wir, zum Teufel, nicht mit dem Zigarettengeld durchgebrannt waren … Nicht aus Selbstlosigkeit waren wir zurückgekehrt. Keine Möglichkeit auf der Straße. Kein Platz in der Möwe. Allein hätten wir es nie geschafft …“ schrieb ich damals in „Johannes im Johanniseck“. Ort der Handlung war die Kneipenbaracke „Johannis-Eck“ auf der Friedrichstraße Anfang der 70er: Eine Saufrunde half zwei jungen Nachwuchsschwulen, für eine Nacht ein Paar zu werden. „Allein hätten wir es nie geschafft“, war meine Antwort auf sozialistische Kollektivierung.

Als ich um 1980 so etwa ein Dutzend Geschichten beisammen hatte, klapperte ich die Verlage ab. Nur der Buchverlag “Der Morgen” übermittelte mir seine Ablehnung schriftlich. Am 19. September 1980: „… daß dieses Thema auch heute noch einem gewissen Tabu unterliegt, keinem offiziellen, mehr so einem untergründigem. Wenn nun ein Verlag dieses Thema literaturwürdig und öffentlich macht, muß das Buch freilich künstlerisch nahezu unangreifbar, d.h. künstlerisch bewältigt sein …“

Also bewarb ich mich kurzerhand am Literaturinstitut in Leipzig, um besser schreiben zu lernen. Die aber wollten so ein Unikat wie mich dann dort auch nicht fördern und belehren.

Programme eintüten beim DDR-Schriftstellerverband, lesen und diskutieren im Literaturzirkel „Maxim Gorki“, hin und wieder ein öffentlicher Vortrag von „Johannes im Johanniseck“ in betrieblichen Kulturhäusern. Nur die Geschichte „Johannes im Johanniseck“ kam durch die Auslese. Ulrich Berkes meinte etwa, als ich ihn fragte, was ich ändern muss: Wie Literatur sein sollte, die seine Leser erreicht, wisse er auch nicht.

Christa Wolf noch schrieb an mich und einen Freund: „… Daher kann ich Herrn Rausch nur ermuntern, diese Geschichten zu schreiben – falls er selbst schon den Abstand zu der Problematik hat, der eine literarische Arbeit aus der persönlichen Sphäre in die Literatur hebt…“ Circulus Vitiosus geschlossen.

In welcher Form hatte die Reformbewegung Einfluss auf Ihre Arbeit nach 1989, und wie beeinflusst diese Ihre Arbeit oder Engagement noch heute?

Für den III. Workshop „Psychosoziale Aspekte der Homosexualität“ 1990 an der Uni Jena reichte ich meinen Vortrag „Die bisexuelle Natur des Menschen – eine soziale Chance“ ein. Zwei Thesen wollte ich damals zu den Forschern tragen:

1. Homosexualität ist eine Eigenschaft aller Menschen. Die Gruppe der homosexuellen Männer und Frauen ist ein exemplarisches, aber nicht repräsentatives Beispiel für menschliche Homosexualität. Der Kern menschlicher Sexualität ist nicht Heterosexualität, sondern mindestens Bisexualität…

2. Menschliche Sexualität (einschließlich des genitalen Anteils) hat eine sozialisierende Funktion. Diese Funktionserweiterung ist besonders charakteristisch für die Gattung Mensch, ist zwar in höheren Arten bereits angelegt und deutlich erkennbar, hat aber ihre komplexe, durchgreifende Wirksamkeit erst im menschlichen Geschlecht gefunden. Für die Menschheit ist die sozialisierende Funktion der Sexualität eine gesellschaftsbildende Größe…

Die Sätze perlten am Publikum ab. Nur zwei kurze Reaktionen.

Prof Dr. Lykke Aresin protestierte aus dem Podium, als ich ihr unterstellte: … Beispiel dafür, die Thematik Homosexualität möglichst klein zu machen, ist der Versuch von ARESIN und GÜNTHER (1985), pseudohomosexuelle Formen zu erfinden, die aus unerklärlichen Quellen gespeist werden, aber auf keinen Fall aus einer homosexuellen Potenz, wie gering auch immer. Sie unterscheiden: ‚Homosexuelle Neigungen in der Pubertät‘; ‚Situationsbedingte Homosexualität‘; ‚Homosexuelle Neigungen bei Bisexualität‘; und dann erst die ‚Ausschließliche, genuine oder essentielle Homosexualität…‘, auch als echte Homosexualität verstanden…“

Die zweite kurze Reaktion erfreute mich dann herzlichst. Bert Thinius meinte in einer Veranstaltungspause flüchtig zu mir etwa so: „Du bist viel zu bescheiden“. Beide Reaktionen merkte ich mir.

Welche Zusammenhänge sehen Sie zwischen den damaligen Aufbruchsbewegungen und den heutigen?

Die Sexualkultur des heutigen Abendlandes ist Produkt einiger tausend Jahre. Insofern ist die „damalige Aufbruchsbewegungen und die heutige“ ein und dieselbe. Ost und West haben eben dieselbe Vergangenheit. Deutlich wird dabei, wie Aufklärung verhängnisvoll abhängig von sogenanntem Zeitgeist und Leitkulturen, besser von Glaubenssätzen und Massenseele, ist. Schwarmintelligenz, Disziplinierung von Denken. Die ostdeutsche Reflexion setzt da in aktuellen Diskursen oft konstruktive Irritationen.

Warum finden Sie es wichtig, auch heute noch über die DDR zu reden?

Die Feminismus-Diskussion in der DDR war eine andere als die im Westen. Schon Clara Zetkin kritisierte Anfang des 20. Jahrhunderts die bürgerliche Frauenbewegung, welche die ökonomische Situation der Frau unzureichend beachtete. Die Emanzipation der Frau war und ist nicht zu trennen von ihrem konkreten und absoluten Anteil am gesellschaftlichen Reichtum. Die Einkommensdifferenz zwischen Mann und Frau ist da nur ein Aspekt und isoliert betrachtet ein Irrweg.

Fest an der Panke, Wendezeit, © Peter Rausch

„Produktive Sexualität“ war kürzlich in einer Literaturdiskussion ein nicht aufzuklärender Begriff. Schweigen von allen Seiten. Die Sprachlosigkeit ließ sich nur noch auflösen durch Themenwechsel. Entscheidender Grund war meiner Meinung nach die Tabuisierung und das Fetischisieren von „political correctness” in der akademischen Diskussion des Westens, die „produktive Sexualität“ sofort mit „ausbeuterischer Sexualität“ assoziierte. Als Ossi bin ich da eben lockerer: Sexualität produziert Orgasmen – das kann nur Sexualität. Sie produziert Begehren, Begierde, Lust am Leben, Freude am Leben, rosa Brillen, das Phänomen Liebe und dann noch, entscheidend und existentiell: Menschliche Sexualität produziert Gesellschaft. Kindermachen ist da ein Nebenvorgang. www.raunitz.de.

The feminism debate in the GDR was different from that in West Germany. By the beginning of the twentieth century, Clara Zetkin had already criticized the middle-class women’s movement, which insufficiently considered the economic situation of women. Women’s emancipation cannot be separated from their direct and absolute share in societal wealth. The income gap between men and women is only one aspect, and when looked at in isolation, it’s an aberration.

“Productive sexuality” was an unclear term in a recent literature discussion. Everyone was silent. Only a change of topic was able to end the speechlessness. In my opinion, the reason for this was the taboo set by and fetishization of „political correctness” in western academic discussions that automatically associated “productive sexuality” with “exploitative sexuality.” As an East German, I am more relaxed about this: Sexuality produces orgasms – only sexuality can do this. It produces desire, cravings, lust for life, joy in life, rose-colored glasses, and the phenomenon of love. And most importantly and existentially, human sexuality produces society. Producing children is a side effect in this context. www.raunitz.de

Peter Rausch wurde 1950 in Berlin Friedrichshain geboren. Er ist Diplomingenieur für Elektroniktechnologie und arbeitete bis 1991 im Hochschulwesen der DDR und der Bundesrepublik. 1973 gründete er zusammen mit Anderen die erste schwullesbischbitransexuelle Emanzipationsgruppe in der DDR, die HIB (Homosexuelle Interessengemeinschaft Berlin). Ende der 80er Jahre setzte er die Emanzipationsarbeit beim Berliner Verein „Sonntags-Club“ fort, einige Jahre auch hauptberuflich. Seit 1998 ist Rausch in den neuen Medien tätig. Nach der Wende publizierte er Sachtexte wie zum Beispiel „Die bisexuelle Natur des Menschen – eine soziale Chance“ (Jena 1990). „HomoBlocker“, erschienen 2014, ist sein erster Roman.