Elke Urban

Was waren Ihre Träume und Hoffnungen in den achtziger Jahren? Wie sahen Sie die Gesellschaft der DDR zu dieser Zeit?

Es war eine bleierne Zeit. Aber es gab Träume von einer demokratischen Schule auch schon vor 1989. Wir waren in Leipzig zum Glück nicht völlig abgehängt von den Vorstellungen einer anderen Pädagogik, die es längst anderswo in Europa gab. Leipzig hatte zwar auch eine eigene reformpädagogische Geschichte, die aber seit 1933 keine Chance zur Wiederbelebung hatte. Die Erziehung zur „freien geistigen Arbeit“ des Leipziger Schulleiters Hugo Gaudig  (18651923) oder die alternativen pädagogischen Ansätze des Leipziger Lehrervereins waren beiden diktatorischen Systemen nach 1933 vollkommen suspekt. Viele reformpädagogische Konzepte und ihre Protagonisten wanderten deshalb nach 1933 und spätestens nach 1949 in den Westen aus, die Leipziger Gaudigschule nach Westberlin.

Was der Deutschlandfunk und das Westfernsehen nicht so umfangreich vermitteln konnten, breitete sich allerdings durch Bücher auch in Ostdeutschland wieder aus. Beispielsweise landeten zweimal im Jahr nach der Buchmesse einige „verbotene“ Bücher auch in unseren Wohnungen. Westbücher kamen auch noch auf anderen verschlungenen Pfaden zu uns. Jedes in der DDR verbotene Buch hatte mindestens zwanzig weitere Lesefamilien, und es bekam dann irgendwann auch deutliche Gebrauchsspuren. Diese waren für uns geradezu Markenzeichen für den eigentlichen Wert eines Buches. Eine völlig andere Welt der Erziehung lernten wir beispielsweise in den Büchern von Janusz Korczak kennen. Kinderrechte wurden damit für uns zum wichtigen Thema. 1969 war in Westdeutschland die „Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung“ von A.S. Neill als Taschenbuch erschienen. Wir haben in unserem Freundeskreis das Buch regelrecht verschlungen und heftige und kontroverse Debatten darüber geführt. Meine Schwägerin brachte mir aus Wuppertal in den siebziger Jahren die „Reform der Erziehung“ und „Konrad! Sprach die Frau Mama“ von Andreas Flitner mit. Die Träume von einer anderen Schule sind also nicht erst 1989 quasi vom Himmel gefallen. Sie wurden auch nicht im Zuge der Wiedervereinigung vom Westen importiert, auch wenn so manches Schulmodell in Westdeutschland zum Vorbild für eigene neue Schulgründungen wurde.

Unter dem schützenden Dach der Kirchen oder auch in manchen Wohnzimmern wurden die Forderungen nach einer anderen Schule und vor allem nach einer anderen Erziehung als wir sie in der DDR-Schule erlebten schon lange vor 1989 diskutiert. Besonders seit den achtziger Jahren sind viele von diesen Ideen und Forderungen auch in den Stasiakten nachzulesen. In Elternkreisen in unseren Wohnzimmern und in christlichen Kindergärten, in Rüstzeitheimen der Kirche oder in Veranstaltungen zu den alljährlichen Friedensdekaden haben wir jedenfalls schon lange vor der Friedlichen Revolution auch über eine andere Pädagogik gesprochen. Den Glücksfall einer Friedlichen Revolution hatten die Deutschen noch nie zuvor feiern können. Es hätte auch anders ausgehen können.

Welche Reformbewegungen oder Gruppierungen gab es in den Jahren vor der Wende?

Ich war seit 1984 in einer Umweltgruppe aktiv, die zunächst von einer Kirchengemeinde ausging, dann aber im Rahmen des Kulturbundes angesiedelt war, in der Hoffnung, etwas gegen die schreckliche Umweltverschmutzung tun zu können. Unsere Aktionen waren naiv bis desillusionierend. Wir verpflanzten Märzenbecher aus dem Auwald, um sie vor dem Abbaggern durch die Braunkohle zu schützen. Selbstverständlich wurden wir auch in dieser Umweltgruppe von der Stasi überwacht. Über mich wurde ein operativer Vorgang angelegt.

Oft hatte ich donnerstags zwischen Umweltgruppe und Kirchenchor zu wählen. Ich bin dann lieber zum Kirchenchor gegangen, weil ich dort durchatmen konnte und meiner Seele etwas Gutes tun konnte.

In welcher Form hatte die Reformbewegung Einfluss auf Ihre Arbeit nach 1989, und wie beeinflusst diese Ihre Arbeit oder Engagement noch heute?

Ich habe dort gelernt, die Hoffnung niemals aufzugeben. Nach 1989 habe ich mit großer Leidenschaft Schulen gegründet, die ganz anders sind als DDR-Schulen. Ich habe gelernt, dass Widersprechen die Demokratie am Leben erhält. Deshalb mache ich jetzt an vielen Schulen Workshops, die heißen „Wer in der Demokratie einschläft, wacht in der Diktatur auf“. Näheres dazu finden Sie auch im Buch Voneinander Lernen mit dem Rollenspiel „Heimatkunde 1985 Zivilcourage heute“.

Welche Zusammenhänge sehen Sie zwischen den damaligen Aufbruchsbewegungen und den heutigen?

Am sympathischsten ist mir die Friday for Future-Bewegung. Ich bin am 8. Oktober 1989 im Neuen Forum eingetreten, das sich dann später bei Bündnis 90/Die Grünen mit den Westgrünen zusammengefunden hat. Heute sind es vor allem die jungen Leute, die sich um unsere gemeinsame Zukunft sorgen. Damals ’89 waren wir auch viele Ältere, aber die Mutigsten waren auch damals schon die ganz Jungen ohne Kinder.

Warum finden Sie es wichtig, auch heute noch über die DDR zu reden?

Wir müssen lernen, die Mechanismen von Diktaturen zu durchschauen. Aber auch in der Demokratie sind wir zunächst Mitläufer, also weder Opfer noch Täter. Die Erziehung zum „Hass auf die westdeutschen Imperialisten“ und die Erziehung zur Lüge, um sich selbst und die Familienangehörigen nicht zu beschädigen, die Erziehung zur Fremdenfeindlichkeit und zum Hass auf Israel wirken vielleicht noch nach. Ich weiß nicht, was die DDR-Propaganda tatsächlich bewirkt hat. Da ich aus einem christlichen Elternhaus komme, wo ich mich täglich ab 20 Uhr als Bundesbürger fühlen konnte (Tagesschau), war meine Distanz zum DDR-Staat immer groß genug, um nicht auf die Propaganda hereinzufallen. Ich sehe heute vor allem die Gefahren für die Demokratie, wenn niemand mehr rechtzeitig lernt, zu widersprechen und nicht bereit ist, das Risiko zu tragen, danach vielleicht nicht mehr „zu den Guten“ zu gehören.

We have to learn to understand the mechanisms of dictatorships. In a democracy we are bystanders at first; neither victims nor perpetrators. Maybe, an education to “hate West German imperialists” and to lie in order to protect your families and relatives, an education that supported xenophobia and hatred against Israel, still resonates with us. I don’t know what [long term] effects GDR propaganda really had. Since I grew up in a Christian household where I could feel like a West German citizen from 8 PM onwards (we watched the West German Tagesschau then), I always had enough distance from the GDR to not fall for their propaganda. Above all, I see democracy at risk today if we fail to speak up in time and if we are unwilling to take the risk of being thrown out of “the good guys” the club.

Elke Urban wurde 1950 in Altenburg geboren. Sie hat fünf Kinder und war bis 1975 Lehrerin für Musik und Französisch. Ab dem 4. September 1989 beteiligte sich Urban mit an den Friedensgebeten und Montagsdemonstrationen in Leipzig. Nach der Wende war sie von 1990 bis 1999 zuständig für Schulpartnerschaften und Freie Schulen im Schulverwaltungsamt der Stadt Leipzig. Von 1994 bis 2004 war sie Vizepräsidentin im Europäischen Forum für Freiheit im Bildungswesen. Von 2000 bis 2015 leitete sie das Leipziger Schulmuseum und war Jurorin im Förderprogramm Demokratisch Handeln, im Geschichtswettbewerb und beim Deutschen Schulpreis. 1995 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz, 1998 den Theodor Heuss Preis und 2014 die Sächsische Verfassungsmedaille.